Horusstele Avignon A.58
Übersetzung und Kommentar
Vorderseite
Bildbeischriften
[beim Falken auf der Standarte, A.1] Dein (allgemeiner) zꜣ-Schutz ist beim Herrn des Lebens/Erdkreises (?), (bei) Dem,-der-auf-seinem-Papyrusstängel-ist.
[beim Nefertemsymbol] Dein (allgemeiner) zꜣ-Schutz im Leben ist bei Nefertem, der die Beiden Länder behütet.
[auf dem Sockel bei einem Falken in einem Serech/Kasten, A.5] Der Herr des Erdkreises (?)1.
1 Moret 1913, 56 liest diese Inschrift als nb ꜣḫ.t: „Herr des Horizonts“. Was Moret als ꜣḫ.t: "Horizont" liest, ist fast wie das mutmaßliche ꜥnḫ: "Leben" in Z. A.1 geschrieben. Statt an ꜥnḫ könnte man zumindest im zweiten Fall auch an den šn-Ring denken. Horus nb-šn ist auf einigen Horusstelen belegt (C. Leitz, Lexikon der ägyptischen Götter und Götterbezeichnungen. Band III. p – nbw, Orientalia Lovaniensia Analecta 112 (Leuven/Paris/Dudley, MA 2002), 753a: „der Herr des Erdkreises“).
Schmalseiten
Horusstelentext A = Metternichstele Spruch 10
[linke Schmalseite, B.1] Sei gegrüßt, du Gott, Sohn eines Gottes! Sei gegrüßt, du Erbe, Sohn eines Erben! Sei gegrüßt, du Stier, Sohn eines Stieres! Sei gegrüßt, du Horus, [B.5] der aus Osiris hervorgegangen ist, den Isis, die Göttliche/Göttin, geboren hat!
[Besprich für mich]1 in/mit deinem Namen! Beschwöre für mich [mit der] Magie (?) des Re (?)! Besprich für mich [mit] deinen Zaubersprüchen! Rezitiere [für] mich [mit den Rezitationen], die du erschaffen hast.
[Das sind die] ⸢kunstfertigen Sprüche⸣ [B.10] [, die in] deinem Mund [sind],2 die [dir dein (Groß)vater Ge]b anvertraut hat, die dir deine Mutter Isis gegeben hat, die dich die Majestät des Vorstehers-von-Letopolis gelehrt hat, [um] deinen zꜣ-Schutz zu bereiten, um [deinen] mk.t-Schutz zu wiederholen, um das Maul aller wurmähnlichen Kreaturen (d.h. Schlangen u.ä.) zu verschließen, [B.15] die im Himmel (d.h. in der Luft) sind, die auf der Erde sind, die im Wasser sind, um die Menschen zu beleben, [rechte Schmalseite] 〈um〉 die Götter zufrieden zu stellen, um Re mit [deinen] Lob[preisungen/Gebeten] zu ver[klären.]
[Komme] zu mir, schnell, [B.20] schnell, an diesem Tag / heute, so wie wenn du das Steuerruder des/im Gottesboot hantierst.
[Mögest du für mich] jeden [Löwen] in der Wüste, jedes ⸢Krokodil⸣ [im Fluss], jedes beißende (Schlangen)Maul [in] seiner Höhle abwehren.3 Mögest du 〈sie〉 machen w[ie [B.25] einen Kieselstein des] Gebirges (oder: im Gebirge), wie eine Topfscherbe auf/entlang der Straße. Mögest du das/dieses (hier vorliegende) Gift beschwören, d[as] in jedem Glied des Gottes (?) ist, der [deine] Worte seinet[wegen] (des Gifts) lächerlich macht4.
Siehe, [B.30] dein Name wird heute gerufen.
Lass für mich dein Ansehen 〈mittels〉 (deiner) Magie entstehen!
1 So gemäß Horusstele CG 9405, die später im Textfeld die Horusstelentexte B und D in einer sehr ähnlichen Textgestaltung wie Avignon A.58 hat. Die Spuren von ḏd: "Sprechen" sind auf einem Foto, das das Musée Calvet zur Verfügung gestellt hat, noch ausreichend erkennbar.
2 Die Formulierung bzw. Ergänzung von Moret 1913 beruht auf CG 9401 und 9402 und passt nicht zu den vorhandenen Spuren oder zum vorhandenen Platz.
3 Die Ergänzungen von Moret 1913 stimmen nicht ganz mit den vorhandenen Zeichenspuren überein.
4 Die Formulierung am Ende des Satzes weicht ab von den bei Gutekunst 1995, 135–136 aufgelisteten, aber sie erscheint bei den vorhanden Zeichen die einzig mögliche. Die Lesung nṯr: "Gott" ist unsicher, eventuell ist auch ḥm: "Majestät" möglich. Der Satz dürfte eine Umformulierung sein von: "Hüte dich, dass deine Worte deswegen (oder: seinetwegen, d.h. des Gifts) lächerlich gemacht (oder: weggelacht) werden".
Rückseite
Horusstelentext B = Metternichtstele Spruch 5 = Torso Wien ÄS 40 Spruch 1
[C.1] Oh alter Mann1, [der sich zu seiner Zeit verjüngt, (oh) Greis, der als Jugendlicher agiert, mögest du veranlassen], dass Thoth zu mir auf meine Stimme hin kommt, [damit er für mich das (Krokodil) Wildgesicht (Neha-her) vertreibt.
[Siehe(?)2, Osiris ist] auf dem Wasser; das Horusauge ist in seiner Hand. Der [große] Flügelskarabäus [ist in seiner Faust, der] die Götter (schon) als nḫn-Kind [geboren/gebildet hat (?)].3
Wenn man dem, der auf dem Wasser ist, zu nahe tritt, dann tritt man dem [Horus]auge4 zu nahe.
[Zurück mit] euch, (ihr) Untote (?), [C.5] (ihr) 〈Wasser〉bewohner, (du) Feind, Jener/Feindin, (Un)-Toter/Wiedergänger, (Un)-Tote/Wiedergängerin, Widersacher, Widersacherin und so weiter! Erhebt nicht [eure Gesichter]! Erspäht/jagt nicht mit euren Augen! Es ist Osiris, der euren Schlund verstopft hat. Es ist Thoth, der eure Augen geblendet hat. Es ist Sachmet, 〈die ... ... ...〉
Diese Vierzahl von großen Göttern, die über die Majestät des Osiris wachen, sie sind es, die den zꜣ-Schutz vor (?) dem Gott am (?) Sarg bereiten (sowie) den zꜣ-Schutz dessen, der im Wasser ist.5
Hui, hui!
Eine hohe/laute Stimme ist im Großen-Haus, ein großes Gejammer ist im Mund des Katers (oder: der Katze).
„Was ist los? Was ist los?“ bezüglich (?) des Abdu-Fisches, als er geboren wird.
1 Die drei Hieroglyphenquadrate auf der ersten, heute noch vorhandenen Textzeile sind auf dem Foto, das mir vom Musée Calvet zur Verfügung gestellt wurde, nicht eindeutig identifizierbar. In Anbetracht der Länge der Zeilen auf der Stele und des zu rekonstruierenden Anfangs von Horusstelentext B, ist (contra Moret 1913) nicht mit zwei zerstörten Textzeilen, sondern nur mit einer Zeile zu rechnen, von der eben der Anfang noch vorhanden ist. Das bedeutet, dass darüber noch Platz für ein niedriges Bildfeld war, wie es z.B. auf der sehr ähnlichen Textkomposition auf Kairo CG 9405 der Fall ist.
2 Der Satz fängt auf Kairo CG 9405 und CG 9410 mit m=k: "siehe" an. Alternativ könnte nichts (vor allem in späten Handschriften) oder jw: "wahrlich" dort gestanden haben. Siehe Gutekunst 1995, 109,152–153 (Phrase Nr. 3.1).
3 „Der [große] Flügelskarabäus [steht mit gespreizten Flügeln (schützend) über ihm.].“ So ergänzt Moret 1913, 57; vgl. Gutekunst 1995, 109, 155 (Phrase 3.3,a1–a2). Auf Horusstele CG 9405 steht : "der große Flügelskarabäus ist in seiner Faust, der die Götter als nḫn-Kind geboren hat", auf Horusstele CG 9410 steht : "der große Flügelskarabäus ist in seiner Faust; die Kinder der Götter sind im Wehklagen".
4 So die Ergänzung von Moret 1913, 57. Auf vielen Textvertretern, darunter Kairo CG 9410, steht : "das weinende/verfinsterte Horusauge", aber dafür reicht der Platz nicht aus.
5 Auf den Horusstelen Kairo CG 9405 und CG 9410 steht: "sie sind es, die den zꜣ-Schutz des Gottes, des Vorstehers (?) des Sarges, bereiten, und den zꜣ-Schutz dessen, der im Wasser ist".
Rückseite
Horusstelentext D
Hui, hui! (Oh du), der auf den (man) spuckt, (du) Maga, [C.10] Sohn des Seth,
Oh (du), der mit seinem Schwanz fährt1, dessen Ruder/Paddel seine Hände sind2: was den Gott angeht, der dich mit einem Auftrag ausgesandt hat, er ist es, der mir befohlen hat, dich aufzuhalten/zu behindern.3
Hast du dich also nicht vertraut gemacht mit (oder: verschluckt?)4 Sebeq und Sebeqet, Tem und Temet, der Vierzahl an großen Achs, die über die Majestät des Osiris wachen?
Hast du dich also nicht vertraut gemacht mit (oder: verschluckt?) Neheheti (?)5, der auf deinem Rücken ist wegen des großen Verbrechens, das du getan hast in/an der Barke dieses Gottes, als deine Zunge auf6 dem Rumpfbrett (oder: der Reling)7 dieser Barke abgeschnitten wurde, wobei du mit dem großen Pflock8 des Osiris vernichtet worden bist.
Hüte dich vor dem Gottesleib!9 Hüte dich vor dem Leib 〈des NN〉!
[C.15] Ansonsten werde ich sagen:
Hui, hui!
Scherdescheq ist dein Name! Berqer ist dein Name! Ireriry ist dein Name. Amun-na-tjen Amun-na-ka-intek 〈ist dein Name.〉
Auf der Flut hat der göttliche Falke sich abgewandt (?).
Der Feind (?) (oder: Phre)10 in seinem großen Haus, (ist) der, der gekentert ist.
Wehe! Es gibt keinen, der sich kümmert (?)11.
[Man werde nicht freveln gegen NN].
1 Auf Horusstele Kairo CG 9410 steht : "der, der sich vorwärts (?) schleppt/zieht mit seinem Schwanz".
2 Entweder ein Adverbialsatz „dessen Ruder in seinen Händen sind“ oder ein Identitätssatz: „dessen Hände als seine Ruder fungieren“.
3 Meeks 1985, 136–137 übersetzt „Quant au dieu parti en voyage, c’est lui qui exécutera mon ordre pour te faire reculer.“
4 Meeks 1985, 137 übersetzt das Verb mit: "Bien sûr je ne ravalerai (?) pas (...)." Quack 2018, 38–39, hat: "Kennst du nicht (...)." J.-C. Goyon, Le recueil de prophylaxie contre les agressions des animaux venimeux du Musée de Brooklyn. Papyrus Wilbour 47.218.138, Studien zur spätägyptischen Religion 5 (Wiesbaden 2012), 17 (§ 10) übersetzt mit: "Certes, tu n’as pas englouti ..." und mit "avaler".
5 ⸮n?ḥḥ,tj: Mit dem Feind als Determinativ. Quack 2018, 39, Anm. 81 verzichtet in seiner synoptischen Bearbeitung von Spruch D auf eine Übersetzung. Er fragt sich, ob mit ḥtḥt.w(?) (so seine Transkription auf S. 37) die Feder auf dem Rücken des Krokodils gemeint sein könnte, die u.a. vom Gauzeichen von Dendara bekannt ist. Er vergleicht mit kopt. ϩⲧⲏ: "Lanzenschaft" und mit äg. ḥtyt: "spitzer Gegenstand". Meeks 1985, 137 übersetzt: "l’Agrippeur (?)". Auf Horusstele Moskau Nr. 182 (I.1.a.4467) steht nwḥtḥt o.a., auf Horusstele Kairo CG 9410 steht der Plural nꜣ ḥtj.w: "Schlächter(?)-Götter" (nur Abschrift in Bleihieroglyphen). Vgl. dazu ḥttjw, das eine Graphie von ḥntjw sein kann, vgl. ḥnṯtjw: "die Schlächter". Die verständlichste Schreibung steht auf Kairo JE 86778: nꜣ jtḥ: "die Schlingen, Fesseln".
6 Zur Übersetzung vgl. Quack 2018, 39: "wegen des Bordbrettes"; Meeks 1985, 137: "sur le plat-bord."
7 R. Hannig, Die Sprache der Pharaonen. Großes Handwörterbuch Ägyptisch – Deutsch (2800–950 v. Chr.), Kulturgeschichte der antiken Welt 64 (Mainz 2009), 723: "*e. Rumpfbrett (des Holzboots); *Reling; *Schanzkleid"; Wb. 4, 43.1 "Bordbrett des Schiffes"; N. Dürring, Materialien zum Schiffbau im Alten Ägypten, Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo. Ägyptologische Reihe 11 (Berlin 1995), 64, 215: s.v. sꜥꜣ: "a) Holzteil, Balken; b) Schanzkleid, Reling". R. O. Faulkner, A Concise Dictionary of Middle Egyptian (Oxford 2002 (Repr. 1962)), 213: "gunwale"; R. A. Caminos, Late-Egyptian Miscellanies, Brown Egyptological Studies 1 (London 1954), 161: "thole-board, gunwale"; G. Jéquier, Essai sur la nomenclature des parties de bateaux, in: Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale 9, 1911, 37–82, Taf. 1–3, hier: 51–52: "agrandisseur" (Bezeichung von zwei Sockeln auf dem Deck der Sonnenbarke, die wḏ.t-Holzpfosten unterstützen); P. Montet, Les scènes de la vie privée dans les tombeaux égyptiens de l’Ancien Empire (Strasbourg 1925), 341: "bastingage" (d.h. "Reling"); D. Jones, A Glossary of Ancient Egyptian Nautial Titles and Terms (London/New York 1988), 183-184: "gunwale, thole-board".
8 nꜥy.t: Wb. 2, 207.17: "ein Pflock oder Pfahl am Vorderteil des Schiffes, mit dem es an Land festgemacht wird"; W. K. Simpson, Papyrus Reisner II; Accounts of the Dockyard Workshop at This in the Reign of Sesostris I. (Boston 1965), B 23: "mooring block, cleat, stake at bow for mooring"; F. Ll. Griffith, The Teaching of Amenophis the Son of Kanakht. Papyrus B.M. 10474, in: Journal of Egyptian Archaeology 12, 1926, 191–231, hier: 199, Anm. 3 "mooring post"; R. O. Faulkner, A Concise Dictionary of Middle Egyptian (Oxford 2002 (Repr. 1962)), 126: "mooring-post"; Dürring, Materialien zum Schiffbau, 86: „ein Rundholz“; Jones, A Glossary of Ancient Egyptian Nautial Titles and Terms, 199: "mooring-post"; kopt. ⲛⲁⲉⲓⲱ: W. E. Crum, A Coptic Dictionary (Oxford 1962), 218b: "peg, stake for ship’s hawsers"; W. Westendorf, Koptisches Handwörterbuch (Heidelberg 2008 (Repr. 1965–1977)), 120: "Pfahl, Haltepflock (für Schiffe)".
9 Dies könnte auch auf Horusstele Kairo CG 9405 stehen.
10 Pꜣ ḫrꜥ: So auch auf Horusstele Kairo CG 9405; zerstört auf CG 9410. Ist eine Ableitung von ḫr: "Feind" gemeint, eventuell als Euphemismus, oder liegt eine Schreibung von Pꜣ-Rꜥw: "Phre; der Re" vor?
11 Quack 2018, 39 übersetzt mit: "Beschirmer (?)".