Magie

Dokumente zu diesem WissensbereichWährend die heutige westliche Gesellschaft magisches Denken als irrational und damit geradezu als Gegenteil zu rationalen Wissenschaften versteht, war Magie in der Antike ein selbstverständliches Mittel, natürliche Abläufe zu erklären und zu kontrollieren. Gerade im Bereich der Heilkunde bildeten magische Praktiken ein Komplement zur Anwendung pharmakologischer Mittel. Daher bilden Texte beschwörender Natur, entweder zur Prävention von Übeln aller Art, wie Krankheiten, persönlichen Feinden oder gar allzu frühem Tod, oder auch zur Heilung von bereits virulenten gesundheitlichen Problemen den Gegenstand des 2. Corpusmoduls in unserem Leipziger Akademie-Projekt.

Während sich diagnostisch-therapeutische Traktate gezielt an ihre potenziellen Anwender bzw. Heiler richten, weisen magische bzw. beschwörende Texte eine andere Adressatenschaft auf, und diese ist grundsätzlich nicht menschlicher, sondern göttlicher oder dämonischer Natur. Anders als die sogenannten medizinischen Texte, die in einem maskulinen „Du“ vorgetragen werden bei gleichzeitiger Absenz eines Patienten, beziehen die magischen Sprüche und Beschwörungen den Patienten namentlich ein, wobei der Rezitator in eine göttliche Rolle schlüpft und so auf Augenhöhe gegen andere Götter und deren dämonische Sendboten argumentiert und agiert. Bei diesen Rezitationen ist der Patient anwesend, und wir haben uns eine mit Eigennamen versehene Beschwörung als lebendige Performanz eines Rituals im Kleinen bzw. Privaten vorzustellen. Neben diesen bisweilen „mini rituals“ genannten Prozeduren wurden aber z.B. auch derartige Beschwörungen auf großer Bühne, nämlich im Rahmen von aufwendigen Ritualen im Tempelbezirk, durchgeführt. So muss hier etwa das allmorgendlich auf das Weck- und Speiseritual der jeweiligen Hauptgottheit eines solchen Tempelbezirks folgende Ritual erwähnt werden, das der Vernichtung des kosmischen Erzfeindes des Sonnengottes namens Apophis diente. Strukturell und funktional sind solche im Privatmilieu wie im Tempel performierten Rituale einander sehr ähnlich, in ihrem Umfang und materiellen Aufwand dürften sie sich allerdings erheblich unterschieden haben.

Diagnostisch-therapeutische Texte liegen uns ganz überwiegend als mehr oder minder umfangreiche Sammelhandschriften oder Handbücher auf Papyrusrollen vor. Exzerpte daraus, also Einzeltexte, wurden nach dem bisherigen Befund wohl auf separate Papyrusblätter übertragen und dem jeweiligen Patienten zur eigenen Verwendung übergeben, um sie etwa als Phylakterien an einer Schnur um den Hals zu tragen. Genau diese praktische Anwendung lässt sich bei Exzerpten aus Handbüchern mit Beschwörungen beobachten: Darin noch anonym und mit Platzhaltern für individuelle Eigennamen versehene Sprüche wurden bei Applikation und nach vollzogener Rezitation entweder dem jeweiligen Nutznießer übergeben oder in zahlreichen Fällen ihm physisch appliziert. Eine der häufigsten Formen des praktischen Gebrauchs von beschrifteten und bisweilen auch illustrierten Papyrusamuletten war es, in kleinen Behältnissen an einer Schnur um den Hals getragen zu werden. Die Schnur selbst trägt nicht selten sieben Knoten, und diese auf der heiligen Zahl 7 basierenden Knoten sollten den Träger entweder vor jeglichem Ungemach besonders lebensbedrohender Natur bewahren oder akute gesundheitliche Probleme auf ewig vertreiben.

Allerdings bilden solche Amulette nur eine Waffe unter vielen im Arsenal präventiver wie kurativer beschwörender Praktiken im pharaonischen Ägypten. Amulette ohne jede Aufschrift und in großer morphologischer Bandbreite wurden zu allen Zeiten der altägyptischen Geschichte als regelrechte Massenware produziert und getragen, zu Lebzeiten wie auch im Jenseits. Diese nicht selten tiergestaltigen Objekte werden jedoch wegen ihres zumeist unbeschrifteten Auftretens nicht in unserem Modul berücksichtigt; eine Monographie dazu ist in Kürze von Joachim F. Quack zu erwarten. Auf der Website sind rein mit Bildern versehene Objekte nicht mit aufgenommen, da sich hier auf die Texte konzentriert wird.

Neben Krankheiten resp. Symptomen somatischer wie psychosomatischer Eigenart sind es besonders Tiere und Totengeister (Wiedergänger), die einem das Leben im Alten Ägypten schwermachen konnten. Giftige Schlangen und Skorpione etwa gehörten zur alltäglichen Bedrohung von Leib und Leben, und zahlreiche Sprüche zu ihrer Abwehr oder zur Heilung ihrer Biss- und Stichwunden samt ihren Folgesymptomen füllen umfangreiche Papyrusrollen. Ebenso wie bei den anderen Beschwörungen in der vordemotischen magischen Literatur weisen diese Sprüche in aller Regel eine dreiteilige Struktur auf: Auf den Spruchtitel folgt die eigentliche Rezitation, abschließend wie der Titel in roter Tusche eine Rezitationsanweisung, wie oft der Spruch zu rezitieren sei, sowie eine manuelle Instruktion über die zu verwendenden Requisiten oder gegebenenfalls zu malenden Illustrationen in Gestalt sogenannter Vignetten. Die Rezitation hat schwarz geschrieben zu sein, bestimmte heilige Wörter und Namen dürfen z.B. gar nicht rot geschrieben werden, weil Rot die Farbe des Osirismörders Seth ist. Alle drei Textabschnitte gilt es prinzipiell auf einem „neuen Papyrus“, d.h. der vorher noch unbeschriftet war, niederzuschreiben und die Figuren der Vignette zu zeichnen. Ein schon einmal beschriebener, abgeriebener und zur Wiederverwendung recycelter Papyrus (Palimpsest) hätte nach ägyptischer Vorstellung seine Wirkung verfehlt. Die Wirksamkeit der Rezitation wäre durch die kleinsten Spuren des Vorgängertextes welcher Art auch immer kontaminiert worden und damit zum Scheitern verurteilt gewesen. Diese Vorschrift ist rein praktisch gesehen zwar häufig unterlaufen worden, denn zahlreiche Sprüche befinden sich auf solchen Palimpsesten, doch geht sie konform mit derjenigen bei der Gründung eines neuen Tempels: Auch dieser muss auf quasi jungfräulichem Terrain gebaut werden.

pDeir el-Medineh 45

Göttliche Helfer werden als Beistand gegen eine personifizierte Krankheit und gefährliche Tiere angerufen. Abbildung zu einem magischen Spruch (pDeir el-Medineh 45)

Im Zuge der digitalen Aufnahme und philologischen Bearbeitung solcher Beschwörungen ist es ein wesentliches Anliegen des Leipziger Projektes, ähnlich wie bei dem vorangehenden Modul zu den medizinischen Texten, das für magische Sprüche typische Vokabular zu identifizieren und lexikographisch zu diskutieren. Allein das Vokabular zum Ausdruck der Vertreibung wie Vernichtung z.B. von Dämonen aller Art weist eine ausgesprochen große Bandbreite auf, und zudem verrät es eine dezidiert kriegerische bzw. militärische Rhetorik. Das dahinterstehende Konzept „Feind(schaft)“ kann auf dem realweltlichen Schlachtfeld bekämpft werden wie eben auch im Rahmen eines Minirituals in häuslichem Kontext. Dazu braucht es keine grundlegend verschiedenen Wortarsenale und Phraseologien. Beschwörungen wie überhaupt alles Handeln und Tun eines Heilers, sei er nun prioritär „Arzt“ oder „Magier“, ist im schlimmsten Falle ein Kampf gegen „alles (erdenklich) Üble“. So wie unsichere medizinische Prognostiken durch „Kampf“ begleitet werden müssen (das lehrt das sogenannte 2. Verdikt der medizinischen Texte), so agiert der Magier auf seinem Schlachtfeld nicht zuletzt durch Drohungen gegen Götter und Dämonen, und durch die physische Vernichtung von z.B. Stellvertreterfigürchen löscht er auch zugleich deren Existenz aus.