dšr „Leinsamen (?)“
dšr: Insgesamt sind folgende dšr-Drogen/-Mineralien bekannt:
(1) dšr mit Abkürzungsstrich, Mineralienklassifikator, Pluralstrichen.
(2) dšr/dšr.w mit Pflanzenstängel (2 Belege) und in einem Fall zusätzlichen Pluralstrichen.
(3) dšr, teilweise syllabisch (d.h. nicht mit r, sondern mit der syllabischen Gruppe rw) und mit Baumklassifikator geschrieben.
(4) Eine oder mehrere dšr genannte Holzprodukte (s. unten).
(5) dšr.w mit Abkürzungsstrich, Mineralienklassifikator, Pluralstrichen. Also dieselbe Graphie wie (1), nur mit zusätzlicher w-Schleife.
Zu (1): H. Brugsch, Hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch. Enthaltend in wissenschaftlicher Anordnung und Folge den Wortschatz der Heiligen-und der Volks-Sprache und -Schrift der alten Ägypter. Nebst Erklärung der einzelnen Stämme und der davon abgeleiteten Formen unter Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit den entsprechenden Wörtern des koptischen und der semitischen Idiome. Bd. VII (Leipzig 1882), nimmt es als eigenes Lemma auf und vergleicht es mit koptisch ⲑⲉⲣⲉϣ: „Leinsamen“. Auch das Wb 5, 491.5–6 sieht darin ein eigenes Lemma: „Körner (roter Farbe?)“. Neben den Belegen aus den medizinischen Texten wird noch ein Beleg aus dem Pyramidentempel des Sahure angeführt, wo es einer Abbildung beigeschrieben ist (L. Borchardt, Das Grabdenkmal des Königs Śaꜣḥu-Reꜥ. Bd. 2. Die Wandbilder. Teil 1. Text, Wissenschaftliche Veröffentlichung der Deutschen Orient-Gesellschaft 26 (Leipzig 1913), 78; vgl. Abbildungsblätter, Bild 3). Das dortige Wort ist allerdings nicht mit Einkonsonantenzeichen, sondern mit dem Flamingo (dšr) und drei Körnern geschrieben. Sowohl der Wortanfang als auch das abgebildete Produkt sind aber teilweise zerstört; die Abbildung hilft also bei der Identifizierung nicht weiter. Sethe (in: Borchardt, a.a.O., 78) erwägt als Bedeutung „Rötel“. Allerdings spielen weder Sethes Vorschlag noch überhaupt das Sahure-Relief in späteren Besprechungen eine Rolle. H. Grapow – H. von Deines, Wörterbuch der ägyptischen Drogennamen, Grundriß der Medizin der alten Ägypter VI (Berlin 1959), 581 interpretiert Graphie (1) und (2) als Varianten derselben Droge. Dem folgt G. Charpentier, Recueil de matériaux épigraphiques relatifs à la botanique de l’Égypte antique (Paris 1981), Nr. 1459. R. Germer, Untersuchung über Arzneimittelpflanzen im Alten Ägypten. Dissertation zur Erlangung der Würde des Doktors der Philosophie der Universität Hamburg (Universität Hamburg 1979), 348–350 denkt an eine pflanzliche Droge mit einem roten Farbstoff. Alkanna tinctoria oder Rubia tinctorium (Färberkrapp) schließt sie aber jedenfalls aus. W. Westendorf, Handbuch der altägyptischen Medizin, Handbuch der Orientalistik I.36 (Leiden 1999), 510 nennt mit Verweis auf J. Černý, Coptic Etymological Dictionary (Cambridge 1976), 43 wieder die Verbindung mit koptisch ⲑⲉⲣⲉϣ. Diese nennt auch R. Germer, Handbuch der altägyptischen Heilpflanzen, Philippika 21 (Wiesbaden 2008), 163–164. Sie schließt aber dennoch eine Bedeutung „Leinsamen“ aus, denn in Bln 185 wird „rotes Öl“, mrḥ.t dšr, genannt. Weil jedoch Leinsamen Öl nicht rot färben könne, das Öl in Bln 185 aber seiner Bezeichnung nach sonst keine färbenden Bestandteile habe, zweifelt sie die Bedeutung „Leinsamen“ an. Als letztes Argument verweist sie noch auf Eb 197, wo dšr zusammen mit djdj: „nubischer Hämatit“ genannt sei. Allerdings muss der Name der Droge contra Arzneimittelpflanzen, 349 und Handbuch, 164 nicht zwangsläufig auf einen roten Farbstoff zurückgehen, sondern könnte sich ebenso gut auf die Farbe der Droge selbst beziehen. Leinsamen etwa hat eine gelbliche bis bräunliche Farbe, ein Spektrum, das durchaus innerhalb der Bandbreite der ägyptischen Farbbezeichnung dšr liegt. Ein Nachkochversuch des Berliner Rezeptes von J. Russell (präsentiert im Zoom-Vortrag „(Re-)Identifying Drugs and Testing Recipes: Ancient Egyptian mjmj als linseed“ am 17.02.2021) hat bestätigt, dass das so entstandene Öl nicht rot ist. Dies nimmt er zum Anlass, die Identifizierung als Leinsamen auszuschließen. Da das präsentierte Öl jedoch zumindest eine gelblich-braune Färbung hatte, bleibt die Möglichkeit „Leinsamen“ jedoch nicht völlig ausgeschlossen.
Ein viel aussagekräftigeres Argument gegen die Bedeutung „Leinsamen“ ist das von Germer nicht genannte Rezept Eb 663, in dem dšr zusammen mit (j)ny.t n.t mḥj: „jny.t vom Flachs“ genannt ist. Die Droge jny.t ist auch als Bestandteil von Datteln bekannt und wird dort mit Vorsicht als Kern aufgefasst; bei jny.t von Flachs wird analog dazu von den „Samen“ ausgegangen (s. DrogWb, 36). Das würde aber im Fall von Eb 663 bedeuten, dass Leinsamen zwei Mal genannt sind, nämlich unter der Bezeichnung dšr und unter der Bezeichnung jny.t n.t mḥj. Da in den medizinischen Rezepten eine Droge nie zwei Mal genannt ist, würde dies bedeuten:
(a) dšr ist kein Leinsamen.
(b) dšr ist Leinsamen, aber vielleicht in einem bereits weiterverarbeiteten Zustand, der von den Ägyptern als so verschieden von einfachem Leinsamen verstanden wurde, dass er mit einem eigenen Begriff versehen wurde und neben „normalem“ Leinsamen in einem Rezept vorkommen kann, vgl. etwa das gemeinsame Vorkommen von jt und jt wꜣḏ: „Gerste“ und „frischer Gerste“ in Eb 422.
(c) jny.t hat in Verbindung mit mḥj eine andere Bedeutung als „Samen“.
Von diesen drei Optionen ist (c) die wahrscheinlichste, s. den entsprechenden Kommentar zu jny.t.
Zu (2): Brugsch, Wb VII, 1375 nimmt es als eigenes, von (1) separiertes Lemma auf und hält es für dasselbe Wort wie (3). Wb 5, 491.3 trennt es sowohl von (1) als auch von (3). DrogWb, 581 und Germer, Handbuch, 163–164 interpretieren es wiederum als Variante von (1).
Zu (3): Wenn Nr. (1) „Leinsamen“ ist, wäre Nr. (3) definitiv davon zu trennen, denn daraus können den Belegen zufolge Bretter gewonnen werden, und das ist von Flachs nicht möglich. Wohl daher ist das Wort von Brugsch, Wb VII, 1375, von Wb 5, 491.1 wie auch von G. Charpentier, Recueil de matériaux épigraphiques relatifs à la botanique de l’Égypte antique (Paris 1981), Nr. 1458 als separates Lemma aufgenommen. Da es nicht in medizinischen Texten vorkommt, spielt es in Analysen von Drogennamen bislang keine Rolle.
Zu (4): In Wb 5, 491.4 findet sich noch ein weiteres separates Lemma dšr, das wie (1) geschrieben ist, aber in der Verbindung ḫt-dšr vorkommt. Es ist ein Hapax legomenon, das in pHearst, H 185 vorkommt. Laut DrogWb, 407 kann es kein „Holz der dšr-Pflanze“ sein, weil dann ein indirekter Genitiv zu erwarten wäre. Germer, Arzneimittelpflanzen, 300 und Germer, Handbuch, 105 nennt es schlicht „Rotes Holz“. Entgegen DrogWb gibt es jedoch, zumindest in ptolemäischen Texten, durchaus ein ḫt-n-dšr im indirekten Genitiv (A. Mariette, Dendérah. Description générale du grand temple de cette ville. Vol. 4 (Paris 1873), Taf. 36, Kol. 45; vgl. auch, von Wb 5, 491.2 diesem zugeordnet, J. Dümichen, Geographische Inschriften altägyptischer Denkmäler. Bd. 2. Nebst einem Anhange, enthaltend die im Tempel von Edfu aufgefundenen Recepte, in den Jahren 1863-65 an Ort und Stelle gesammelt und erläutert (Leipzig 1866), Taf. 88, Kol. 24). Dieses ist von Wb 5, 491 dem dšr-Baum (3) untergeordnet. É. Chassinat, Le mystère d’Osiris au mois de Khoiak. Fascicule II (Le Caire 1968), 368 vermutet dagegen in ḫt-dšr und ḫt-n-dšr Varianten desselben Wortes, das von (3) zu unterscheiden wäre. Das ḫt-n-dšr von Denderah wird beschrieben als etwas, dessen Anfang (ḥꜣ.t) schwarz und dessen Ende (pḥ) weiß sei (P. Wilson, A Ptolemaic Lexikon. A Lexicographical Study of the Texts in the Temple of Edfu, Orientalia Lovaniensia Analecta 78 (Leuven 1997), 1208 übersetzt dagegen ḥꜣ.t mit „Äußeres“ und pḥ mit „Inneres“) und sein Inneres mkrr. Wenn man es zermahle, würde es „rot wie Gold“; es rieche sehr angenehm. Chassinat vermutet daher darin Gummiharz. Er übersetzt mit „bois rouge“, geht also von einer Verbindung aus Nomen + Adjektiv aus. Im Fall des ausgeschriebenen Genitiv-n in Denderah wäre diese Erklärung aber nicht möglich, denn dort liegt eben ein Genitiv vor. Zählen die unterschiedlichen Genitivverbindungen zur selben Pflanze, besteht entweder die Möglichkeit, die Denderah-Graphie für falsch zu erklären und dort bei einer Übersetzung als „Roter Baum“ zu bleiben, oder die Denderah-Stelle wird gegenteilig dazu als Beleg gewertet, in allen Fällen einen Genitiv anzusetzen. In diesem letzteren Fall spräche dann zumindest graphisch nichts dagegen, das dortige dšr mit dem dšr von (3) zu verbinden. Auch Charpentier, Recueil listet die Belege für ḫt-dšr und ḫt-n-dšr zusammen auf: Nr. 865 (S. 436). Im Gegensatz zu Chassinat trennt er dieses ḫt-(n-)dšr auch nicht von Nr. (3) ab. In jedem Falle auszuschließen wäre wieder eine Verbindung mit (1), sofern dieses „Leinsamen“ ist.
Zu (5): Wohl eher eine Art Zerkleinerungsprodukt als ein konkreter Pflanzenteil: In Eb 191b steht dšr.w n.w sẖ.t, im Parallelrezept Eb 194 dḏw n.w sẖ.t. Ein Produkt dḏw sẖ.t (im direkten Genitiv) ist schon aus dem Alten Reich bekannt. dḏw ist dort ein Produkt der Müllerin, etwas, was gemäß den Szenen des täglichen Lebens gesiebt werden kann und damit einen Zwischenschritt zur Mehlherstellung bildet. E. Edel, Die Felsengräber der Qubbet el Hawa bei Assuan. II. Abteilung. Die althieratischen Topfaufschriften. 1. Band. Die Topfaufschriften aus den Grabungsjahren 1960, 1961, 1962, 1963 und 1965. 2. Teil. Text (Fortsetzung) (Wiesbaden 1970), 25–27 vermutet eine Kombination aus Kleie und Mehl, weist aber darauf hin, dass dies noch zu beweisen wäre. R. Hannig, Großes Handwörterbuch Ägyptisch - Deutsch (2800-950 v. Chr.). Die Sprache der Pharaonen (Marburger Edition), Kulturgeschichte der Antiken Welt 64, 4. Auflage (Mainz am Rhein 2006), 1063, Nr. {39350} gibt, darauf basierend, die Übersetzungsvorschläge „(ungesiebtes) Mehl, Grobmehl“ an. dšr.w könnte daher ein ähnliches „Zerkleinerungsprodukt“ (so Germer, Arzneimittelpflanzen, 148) sein. Westendorfs Alternativvorschlag „zerriebene Körner“ (Handbuch Medizin, 510) ist daher seiner Hauptübersetzung „Körner“ vielleicht vorzuziehen. Bardinets Vorschlag „rouge (= rouille ?)“ (T. Bardinet, Les papyrus médicaux de l’Égypte pharaonique, Penser le médecine (Paris 1995), 277) basiert auf der Etymologie von dšr.
Dr. Lutz Popko