ḏrḏ „Blätter“
ḏrḏ: Immer nur abgekürzt mit dem Kuhohr geschrieben. Anfangs jdn gelesen, weil es etwa in der Wortfamilie jdn: „vertreten“, jdn.w: „Stellvertreter“ als Klassifikator oder Phonogramm dienen kann, s. L. Stern, Glossarium, in: G. Ebers (Hrsg.), Papyros Ebers. Das hermetische Buch über die Arzeneimittel der alten Ägypter in hieratischer Schrift. Vol. 2 (Leipzig 1875), 1–63, hier 7 und H. Brugsch, Hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch. Enthaltend in wissenschaftlicher Anordnung und Folge den Wortschatz der heiligen- und der Volks-Sprache und -Schrift der alten Ägypter. Nebst deren Erklärung der einzelnen Stämme und der davon abgeleiteten Formen unter Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit den entsprechenden Wörtern des Koptischen und der semitischen Idiome. Bd. V (Leipzig 1880), 163. Die Lesung ḏrḏ beruht auf pBerlin P 3038, vso. 3,7, einem Nachtrag von anderer Hand als der übrige Text, s. DZA 31.687.250. Ein mögliches demotisches Derivat davon ist das Wort tt.w in pWien D 6257, F. Hoffmann, Die Verwendung hieratischer Zeichen in demotischen medizinischen Texten, in: S. P. Vleeming (Hrsg.), Aspects of Demotic Orthography. Acts of an International Colloquium held in Trier, 8 November 2010, Studia Demotica 11 (Leuven 2013), 25–39, hier 34.
Zur Bedeutung
(1) G. Ebers, Papyrus Ebers. Die Maasse und das Kapitel über die Augenkrankheiten. I. Die Gewichte und Hohlmaasse des Papyrus Ebers; II. Das Kapitel über die Augenkrankheiten im Papyrus Ebers. T. LV,2 - LXIV,13. Umschrift, Übersetzung und Commentar, Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 11 (Leipzig 1889), 210–212, Anm. 23 schlägt, vor dem Vergleich der Kollokation ḏrḏ n šnḏ.t: „ḏrḏ der Nil-/Dornakazie“ im Augenbuch mit der Verwendung von Gummiharz der Akazie gegen Augenkrankheiten bei Dioskurides, vor, in ḏrḏ (von ihm noch jdn gelesen) ein Harz zu sehen. Da in Eb 779 auch Pulver von ḏrḏ n šnḏ.t genannt wird und die gesamte Gruppe ḏrḏ n šnḏ.t mit dem Mineralienklassifikator (Gardiner Sign-list N33) geschrieben werden kann, hält er auch eine Identifikation mit getrockneten Harzkörnern für möglich. Bestätigung für die Deutung als Harz sieht er darin, dass auch ḏrḏ von Sykomoren und von ꜥr.w-Bäumen (von ihm als Terebinthe identifiziert) genutzt wird und sich, dem vergleichbar, unter den Drogen des Dioskurides auch Milchsaft der Sykomore und Terebinthenharz genannt finden. Schließlich vergleicht er das ḏrḏ des logographisch mit dem Baum geschriebenen jꜣm-Baumes mit einer Flüssigkeit, die ebenfalls logographisch mit dem Baum sowie mit Krug-Klassifikator geschrieben ist (wobei diese Flüssigkeit dank zahlreicher Pleneschreibungen sicher als bꜣq zu lesen ist). Ebers’ Deutungsvorschlag dürfte die Basis für die Übersetzung als „Harz“ bei H. Joachim, Papyros Ebers. Das älteste Buch über Heilkunde (Berlin 1890), passim und auf DZA 31.687.220 sein.
(2) V. Loret, Recherches sur plusieurs plantes connues des anciens Égyptiens (suite), in: Recueil de travaux relatifs à la philologie et à l’archéologie égyptiennes et assyriennes 15, 1893, 105–130, hier 119–122 und V. Loret, La flore pharaonique d’après les documents hiéroglyphiques et les spécimens découverts dans les tombes, 2., erweiterte Auflage (Paris 1892), 87–89 will in ḏrḏ eine Bezeichnung für „Hülsen, Schoten“ („gousse“) im Allgemeinen und die Schoten des Johannisbrotbaumes im Besonderen sehen; er vergleicht es dazu mit koptisch ϭⲁⲣⲁⲧⲉ: „Schote“ und vermutet darin auch den Ursprung von griechisch κεράτιον, lateinisch ceratonia und sogar dem französisch-dialektalem „Carouge“. Außerdem verbindet er es mit der Pflanzenbezeichnung dnrg (Wb 5, 470.4) sowie dem Wort ṯrk (Wb 5, 384.9); und weil Letzteres in pAnastasi IV, 12,1 als Getränk erscheint, vermutet er in RecTrav 15, 120 in ḏrḏ nicht zuletzt auch „une espèce de liqueur“. Seinen Vorschlägen der Wortentlehnung hat L. Keimer, Die Gartenpflanzen im alten Ägypten. Bd. 2, Sonderschrift, Deutsches Archäologisches Institut, Abteilung Kairo 13 (Mainz 1984), 16–17 zu Recht heftig widersprochen, und auch die Identifizierung von ḏrḏ als Hülse lehnt er ab, da in den medizinischen Texten auch ḏrḏ von Bäumen verwendet wird, die keine Hülsenfrüchte tragen, wie etwa Zizyphus, Sykomore und Weide. Keimer äußert sich vorsichtig nur soweit, dass ḏrḏ „irgend einen Teil an verschiedenen Bäumen bezeichnet“.
(3) Wohl inspiriert von Loret, jedenfalls seinen Artikel in RecTrav 15 nennend, sieht G. Jéquier, Matériaux pour servir à l’établissement d’un dictionnaire d’archéologie égyptienne, in: Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale 19, 1922, 1–271, hier 37 „sans doute“ den Saft aus Kernen oder Samen. Darauf basiert möglichweise das „juice“ von B. Ebbell, The Papyrus Ebers. The Greatest Egyptian Medical Document (Copenhagen, London 1937), passim. Und obwohl in H. Grapow – H. von Deines, Wörterbuch der ägyptischen Drogennamen, Grundriß der Medizin der alten Ägypter VI (Berlin 1959), 602 Ebbells Übersetzung als „unklar“ abgelehnt wird, halten von Deines und Grapow es ebd. für denkbar, dass spezifisch das ḏrḏ n šnḏ.t dem ⲁⲕⲁⲕⲓⲁ(ⲥ) der koptischen medizinischen Texte entspricht, dem eingedickten Saft der Schoten und Blätter der Akazie (W. C. Till, Die Arzneikunde der Kopten (Berlin 1951), 45).
(4) Die erwähnte singuläre Pleneschreibung in Bln 204 ermöglichte den Vergleich mit dem ebenfalls singulären Wort ḏrḏr aus dem Grab des Eje in Amarna, das in dem Parallelismus „Federn der Vögel und ḏrḏr.w der Bäume“ steht und daher recht naheliegend mit „Blatt“ übersetzt wird. Die Übersetzung „Blatt“ wird seitdem favorisiert, vgl. schon A.H. Gardiner, Egyptian Grammar. Being an Introduction to the Study of Hieroglyphs, 3rd, rev. edition (Oxford 1957 (Repr. 2001)), S. 463, Sign-list F21; G. Lefebvre, Essai sur la médecine égyptienne de l’époque pharaonique (Paris 1956), 55, Anm. 5; F. Jonckheere, Le papyrus médical Chester Beatty, La médecine égyptienne 2 (Bruxelles 1947), passim; G. Charpentier, Recueil de matériaux épigraphiques relatifs à la botanique de l’Égypte antique (Paris 1981), § 1515; H. Grapow – H. von Deines, Wörterbuch der ägyptischen Drogennamen, Grundriß der Medizin der alten Ägypter VI (Berlin 1959), 602; H. von Deines – H. Grapow – W. Westendorf, Übersetzung der medizinischen Texte, Grundriß der Medizin der alten Ägypter IV.1 (Berlin 1958), passim; W. Westendorf, Handbuch der altägyptischen Medizin, Handbuch der Orientalistik I.36 (Leiden 1999), passim; T. Bardinet, Les papyrus médicaux de l’Égypte pharaonique, Penser le médecine (Paris 1995), passim u.a. Das semantische Verhältnis zu anderen Bezeichnungen für „Blätter“, etwa gꜣb.t, wäre noch zu klären.
(5) J. H. Breasted, The Edwin Smith Surgical Papyrus. Published in Facsimile and Hieroglyphic Transliteration with Translation and Commentary. Vol. 1. Hieroglyphic Transliteration, Translation and Commentary, Oriental Institute Publications 3 (Chicago 1930), 380 folgt zwar weitgehend dem Vorschlag (4), weist aber darauf hin, dass diese Bedeutung nicht völlig gesichert sei und dass die Rinde (cortex), speziell die Rinde der Weide (bezugnehmend auf die Droge ḏrḏ n ṯr.t), ein viel wirksameres Heilmittel sei als die Blätter. Auf Breasteds alternative Erklärung neben der als „Blätter“ weist jedenfalls auch L. Keimer, L’arbre ṯr.t [V13:D21-X1-M1] est-il réellement le saule égyptien (Salix safsaf Forsk.)? in: Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale 31, 1931, 117–237, hier 194 hin.
Dr. Lutz Popko