Botanik und Zoologie
Die Alten Ägypter waren recht genaue Beobachter der Natur. Qualitativ hochwertige Reliefs aus allen Epochen der pharaonischen Geschichte zeigen die Tiere und Pflanzen in mitunter präzisen Details. Manche botanische oder zoologische Unkorrektheit lässt sich durch die Umweltbedingungen erklären. Beispielsweise war der Nil der einzige Fluss innerhalb Ägyptens, so dass die Ägypter bei der Klassifizierung von Fischen wohl eher zwischen ägyptischen und nichtägyptischen Fischen unterschieden als zwischen Süß- und Salzwasserfischen. Hinzu kam, dass sie mit den Mugiliden eine Fischart kannten, die saisonal vom Mittelmeer in den Nil wanderten. Ein Modell, das die Lebensräume von Fischen nach dem Salzgehalt des Wassers differenzierte, konnte so vielleicht nicht entstehen, was erklärt, dass in Reliefs Süß- und Salzwasserfische zusammen dargestellt werden können.
Die Beobachtung der Tier- und Pflanzenwelt resultierte auch in Beschreibungen, auch wenn davon nur spärliche Reste erhalten sind. Zwei Fayenceplaketten, heute im British Museum, London und in der Yale University Art Gallery aufbewahrt, belegen, dass sich in der königlichen Bibliothek der mittleren 18. Dynastie Papyrusrollen mit Monographien zu Granatapfel- und Olivenbäumen befanden; die Plaketten waren wohl ursprünglich auf den Behältern angebracht, in denen die entsprechenden Papyrusrollen aufbewahrt wurden. Eine ungefähre Vorstellung, wie zeitgenössische Pflanzenbeschreibungen formuliert gewesen sein könnten, zeigen die Beschreibungen der snwt.t-Pflanze im medizinischen Papyrus Ebers, Rezept Eb 294, sowie diejenige des Efeus und des „Anubiskrauts“ im magischen Papyrus London-Leiden, Recto XXIV,22-25 und XIV,31-32. Tatsächlich erhaltene Pflanzenbücher stammen erst aus der griechisch-römischen Zeit. Das bekannteste ist das sogenannte Demotische Kräuterbuch aus der Mitte des 2. Jh. n. Chr. Die einzelnen Einträge sind durchnummeriert, so dass man trotz des verlorenen Anfangs weiß, dass mindestens 90 Pflanzen genannt waren; die Einträge bieten den Namen der Pflanze, äußere Charakteristika (oft Farbe, gelegentlich Herkunft, aber keine Details zum Anbau) und pro Pflanze eine bis zwei medizinische Anwendungsarten. Ein vergleichbarer Papyrus, der als „Betrachtung aller Pflanzen des Weidelandes und (?) des Feldes (?)“ betitelt ist (Papyrus BM EA 10547), enthält ähnliche Beschreibungen. Auffälligerweise bietet keiner der Texte Abbildungen der Pflanzen, wie das in zeitgenössischen griechischen Herbarien der Fall ist.
Für Tiere gibt es ähnliche Beschreibungen. Der Brooklyner Schlangenpapyrus enthält im 1. Teil ein Handbuch mit der Beschreibung von 38 Schlangen, die deutlich in der Kennzeichnung ihrer Gefährlichkeit kulminiert, und im 2. Teil eine Sammelhandschrift gegen Bisse von Schlangen und anderen Tieren.
Diese Beispiele zeigen, dass die spätzeitlichen Handbücher zu Pflanzen und Tieren keinem primär botanischen oder zoologischen Zweck dienen, sondern unter medizinischen Aspekten zu sehen und damit komplementär zu den medizinischen Handschriften sind:
Medizinische Rezepte:
Leiden x ⇒ verursacht von y ⇒ erfordert Heilmittel z
Kräuterbuch:
Heilpflanze z ⇒ förderlich bei Leiden x
Schlangenbuch:
Schlange y ⇒ verursacht Leiden x
Trotz ihres anderen Fokus gewähren diese Texte Einblicke in genuin ägyptische Klassifizierungssysteme und Beschreibungsvokabularien. So schließt der Schlangenpapyrus in die Kategorie der ḥfꜣ.w-Schlangen (das Wort hat möglicherweise dieselbe Etymologie wie die Klasse der „Reptilien“ << lat. reptilis: „kriechend“) auch eine Echse mit ein. Das Onomastikon von Tebtynis wiederum schließt aus dieser Tiergruppe Krokodile und Schildkröten aus und klassifiziert diese als eigene Tierarten:
Tebtynis-Onomastikon, Fragmente N 9,2 - U (nach: Osing, Hieratische Papyri aus Tebtunis I, Taf. 9-11)
Die Taxonomie von Tier- und Pflanzenwelt folgt, wie in anderen Bereichen der ägyptischen Sprache, der sogenannten Prototypensemantik. Dabei werden Tiere oder Pflanzen in Kategorien geordnet, deren Eigenschaften durch diejenigen „prototypischer“ Tiere oder Pflanzen definiert werden. Je nach Grad der Ähnlichkeit mit dem Prototyp kann eine Lebensform als engerer oder loserer Vertreter derselben Kategorie angesehen werden. Die Kategorien sind daher je nach gewähltem Prototyp variabel, die Grenzen sind unscharf und es kann zu Überschneidungen kommen, d.h. zu Lebensformen, die zu mehr als einer Kategorie gehören. Während ein solches System der modernen biologischen, durch aristotelische Kategorien bestimmten Merkmalssemantik fremd ist, kann man eine solche Taxonomie ansatzweise mit modernen evolutionsbiologischen Modellen vergleichen, die mithilfe solcher Links zwischen verschiedenen Tier- oder Pflanzenkategorien die Evolution aufzeigen kann. Die folgende Grafik (aus Lincke, Raumwissen in Hieroglyphen, 143, Abb. 4) visualisiert dies mithilfe moderner prototypischer Tierkategorien:
Prototypische Tierkategorien "Vogel" und "Reptil" mit Archaeopteryx als evolutionsbiologischem Link
Manche dieser Kategorien sind in der ägyptischen Sprache nur versteckt vorhanden, ohne dass es ein eigenes Wort für den Prototypen gibt (linguistisch: „covert category“). Trotzdem finden sich in der Schrift Nachweise dafür: Die Ägypter kannten eine Kategorie, die am ehesten als „Vierfüßer mit Fell und Schwanz“ beschrieben werden kann (und damit dem modernen „Säugetier“ nahe kommt, ohne damit deckungsgleich zu sein). Für diese Kategorie gibt es keine eigene Bezeichnung; deren Existenz zeigt sich aber daran, dass Tiere, die zu dieser Kategorie dazugezählt werden, u.a. mit einem Tierfell mit Schwanz geschrieben werden: . Derartige „koverten“ Kategorien werden von Schülern in Onomastika und der sogenannten Miscellanies-Literatur geübt.