ꜥw.t/jꜣw.t „Kleinvieh“

ꜥw.t/jꜣw.t: Das Wort ꜥw.t/jꜣw.t (Wb 1, 29.15–16 und 170.7–171.1; und jw.t(?), s. Quack, Ani, 115, Anm. 117) hat ein breites Bedeutungsspektrum: Meist wird es als „Kleinvieh“ interpretiert und meint hier v.a. Schafe, das ꜥw.t ḥḏ.t: „weiße Kleinvieh“, und Ziegen, das ꜥw.t nḏs.t: „kleine/geringe Kleinvieh“. Davon ausgehend kommt es zu einer Bedeutungserweiterung vom „petit bétail/petits quatrupèdes“ über „bétail, quadrupèdes“ zu „animal“ allgemein, s. P. Vernus – J. Yoyotte (Hrsg.), Bestiaire des pharaons (Paris 2005), 87. Metaphorisch kann es dann auch den Menschen als „Vieh Gottes“ bezeichnen, Wb 1, 171.1. Die erweiterte Bedeutung „Tier“ kann je nach Kontext wiederum spezifizierter, eingegrenzter, sein: Im Alten Reich bezeichnet das ꜥw.t (n.t) ḫꜣs.t jagdbare Wildtiere, d.h. Wildtiere unter Ausschluss von Raubtieren (O. Goldwasser, Prophets, Lovers and Giraffes. Wor(l)d Classification in Ancient Egypt. Classification and Categorization in Ancient Egypt 3, Göttinger Orientforschungen IV.38,3 (Wiesbaden 2002), 70–71); ähnliches gilt auch für das dp-n-jꜣw.t nb n ḫꜣs.t des Prinzenmärchen (pHarris 500, Vso. 5,2) aus dem Neuen Reich. Wenn dagegen etwa im Zweibrüdermärchen (pd’Orbiney) Bata das jꜣw.t seines Bruders hütet, liegt die Bedeutung „domestiziertes Vieh“ nahe; und gemeint sind in dem Fall nicht Schafe und Ziegen, sondern Rinder, wie besonders aus dem Textabschnitt 5,5–8 deutlich wird, in dem Bata das jꜣw.t in den Stall treibt und ihn dabei die „Leitkuh“ (tꜣ jḥ(.t) ḥꜣw.tj) vor seinem Bruder warnt, der ihm auflauert.

In pTurin Cat. 1993 = pTurin CGT 54051, Rto. 2,13 (s. DZA 22.981.570 = A. Roccati, Magica Taurinensia. Il grande papiro magico di Torino e i suoi duplicati, Analecta Orientalia 56 (Roma 2011), 68) wird jꜣw.t neben mnmn.t genannt, das eher als „(scil. domestiziertes) Herdenvieh“, v.a. bestehend aus Rindern, verstanden wird, aber seinerseits auch wieder allgemeinere Bedeutungen annehmen kann, Wb 2, 81.17–23. Die Komplexität des Verhältnisses beider Begriffe zueinander zeigt sich bspw. im Kairener Amunhymnus, pBoulaq 17, wo ꜥw.t in Zeile 1,6 als Geschöpfe Amun-Res den Menschen parallel gesetzt wird (jri̯ rmṯ.w qmꜣ ꜥw.t), als wäre es der Oberbegriff für „Tier“. Gleichzeitig wird eine Zeile später, in 1,7, der Begriff mnmn.t parallel zu sm.w, den Pflanzen, gesetzt (jri̯ sm.w sꜥnḫ mnmn.t; zu dieser Parallelität vgl. die Übersetzung in J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet, Orbis Biblicus et Orientalis, 2., erweiterte Auflage (Freiburg (Schweiz), Göttingen 1999), 196 (Nr. 87A), Zeile 17, anders A. Barucq – F. Daumas, Hymnes et prières de l’Égypte ancienne, Littératures anciennes du Proche-Orient 10 (Paris 1980), 193 und M. M. Luiselli, Der Amun-Re Hymnus des P. Boulaq 17 (P. Kairo CG 58038), Kleine ägyptische Texte 14 (Wiesbaden 2004), 2 und 6, die sꜥnḫ auf sm.w beziehen und damit mnmn.t im Grunde als „Pflanzenfresser“ verstehen; derselbe Vers noch einmal in Zeile 6,4, wo auch Assmann, ebd., 200, Zeile 1 das sꜥnḫ auf sm.w bezieht), so dass beide Begriffe hier für Lebewesen dienen, die nicht Mensch oder Pflanze sind. Dieselbe Bedeutung könnte mnmn.t schon in Zeile 1,1–2 haben, laut der Amun-Re allem Warmen und allen schönen mnmn.t Leben verleiht (rḏi̯ ꜥnḫ n srf nb n mnmn.t nb.t nfr.t) – sofern dort nicht die Wortwahl dadurch bedingt ist, dass Amun-Re kurz zuvor als „Stier“ (kꜣ) bezeichnet wird, mit dem man am ehesten eine mnmn.t, eine „(Kuh-)Herde“ assoziiert.

Werden mnmn.t und ꜥw.t nebeneinander genannt, liegt etwas häufiger diese Folge vor: mnmn.t ꜥw.t, was meist als „Groß- und Kleinvieh“ verstanden wird. Umgekehrt und damit genau so wie in pTurin CGT 54051 (ꜥw.t mnmn.t) ist die Reihenfolge bspw. in den Amun-Re-Hymnen auf pChester Beatty IV, Recto 10,7–8 (s. im TLA), im Amun-Hymnus aus Tura, Zeile 16 und evtl. 22 (A.-M. Bakir, A Hymn to Amon-Rēꜥ at Ṭura, in: Annales du Service des Antiquités de l’Égypte 42, 1943, 83–91, hier 87–88, Taf, 4 = J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet, Orbis Biblicus et Orientalis, 2., erweiterte Auflage (Freiburg (Schweiz), Göttingen 1999), Nr. 88; Zeile 22 ist nach ꜥ.wt zerstört) und in einem Schöpfungshymnus aus Hibis, Kol. 15 (D. Klotz, Adoration of the Ram. Five Hymns to Amun-Re from Hibis Temple, Yale Egyptological Studies 6 (New Haven, CT, London 2006), 149–150 und 297, Taf. 9). Während diese Stellen gewöhnlich auch in der Übersetzung entsprechend als „Klein- und Großvieh“ verstanden werden, übersetzt Assmann die Stelle aus Hibis mit „Vieh und Wild“. Das wäre auch für pTurin CGT 54051 eine Alternative, auch wenn dort die Reihenfolge der Übersetzungsbegriffe vielleicht umzukehren ist: „Wild (ꜥw.t) und Vieh (mnmn.t)“.
Zum komplexen Verhältnis der Begriffe ꜥw.t und mnmn.t zueinander s. auch O. Goldwasser, Prophets, Lovers and Giraffes. Wor(l)d Classification in Ancient Egypt. Classification and Categorization in Ancient Egypt 3, Göttinger Orientforschungen IV.38,3 (Wiesbaden 2002), 69–78.

Dr. Lutz Popko