Papyrus Vatikan Inv. 38573

Metadaten

Wissensbereiche
Alternative Namen
Papyrus Vatikan 19a (Marucchi 1902) Papyrus Vatikan 36 (Marucchi 1891)
Aufbewahrungsort
Europa » Vatikan » Vatikanstadt » Museo Gregoriano Egizio

Inventarnummer: 38573

Erwerbsgeschichte

Die Erwerbsgeschichte ist nur teilweise bekannt. Die ersten 11 Papyri (in 46 Stücken) kamen 1818 und 1819 durch den Franziskaner-Missionar Angelo da Pofi von Luxor in die Vatikanische Bibliothek, weitere kamen 1820 und ein wenig später dazu, u.a. durch eine Schenkung von 12 Papyri von G. Belzoni an Kardinal Consalvi (s. Marucchi 1891, iii; Marucchi 1902, 2, 255–256). Der größte Teil dieser Papyri wurden 1838/39 in das neu gegründete Museo Gregoriano Egizio transferiert, die übrigen, sowie solche, die später erworben wurden, gingen nach 1880 von der Bibliothek ans Museum (Marucchi 1902, 259). Alle Papyri scheinen in Oberägypten erworben zu sein und viele kamen aus Theben (Gasse 1993, 8). Anzunehmen ist, dass dies auch für den magischen Papyrus zutrifft. Dieser wurde schon von Champollion im Jahr 1825 inspiziert, allerdings als „il panegirico di un re“ fehlverstanden (Champollion 1825, 26, Nr. D; Marucchi 1902, 267). Die Inventarnummer des Museo Gregoriano Egizio lautet 38573, ältere Nummern berücksichtigen nur die im Vatikan vorhandenen 78 Papyri (daher Papyrus Nr. 36 bzw. Fragment Nr. 83 im Papyruskatalog von Marucchi 1891) bzw. sind die Ausstellungsnummern im „Gabinetto dei papiri“ (daher Nr. 19a im Museumskatalog von Marucchi 1902).

Herkunft
(unbekannt)

Da die Erwerbsgeschichte im Einzelnen unbekannt ist, kann auch keine begründete Aussage über die Herkunft getroffen werden. Laut Gasse (1993, 8) wurden alle (?) ägyptischen Papyri in Oberägypten angekauft und kommen viele aufgrund interner Kriterien aus Theben.

Datierung
(Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Neues Reich » 20. Dynastie, (Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Neues Reich » 19. Dynastie

Die Datierung erfolgte aus paläographischen Gründen. Marucchi dachte zunächst an die Zeit der 19. bis 22. Dynastie (Marucchi 1891, 91). Erman (1893, 120) spricht von einem Papyrus, „der im n. R. in halb vulgärer und halb alterthümlicher Sprache verfaßt ist.“ Seine Datierung berücksichtigt sicherlich sowohl paläographische als auch grammatische Beobachtungen, die er nicht genauer ausführt. Nach der Korrektur durch Erman, spricht Marucchi von „scritto in bel carattere ieratico dei tempi della XIX o della XX dinastia“ bzw. von „un testo magico dei tempi della XIX dinastia“ (Marucchi 1902, 267 bzw. 283).

Textsorte
Rezitation(en) » Beschwörung(en)
Inhalt

Der magische Text auf dem Recto setzt mitten in einer Historiola ein, in der Isis ihren Sohn Horus darum bittet, dessen Onkel Seth zu helfen, der von einem Gift geplagt wird. Horus scheint sich jedoch zu weigern. Danach treten – sofern der stark zerstörte Kontext ein Urteil erlaubt – verschiedene Götter auf, die alle versuchen, Seth zu heilen, allerdings erfolglos bleiben. Sie müssen somit ebenfalls Horus um Hilfe anrufen, da er der Einzige sei, der Heilung bringen könne. Hierauf folgt eine Beschwörung für Seth, der u.a. angerufen wird, wieder seinen Platz in der Götterbarke einzunehmen, damit diese ihre Fahrt fortsetzen kann. Direkt daran schließt eine Gliedervergottung an, durch die jeder Körperteil (vom Kopf beginnend) unter den Schutz einer Gottheit gestellt werden soll. Nach den Schenkeln bricht der Papyrus jedoch ab (Stegbauer 2015, 284–285).
Stegbauer 2015, 285 scheint zu vermuten, dass der Text auf dem unpublizierten Verso fortgesetzt wird. Suys 1934, 64 gibt jedoch an, dass das Verso „couvert de formules magiques d’un autre genre que celles du recto.“

Material
Organisch » Faser, Pflanzliche und Tierische » Papyrus
Objekttyp
Artefakt » Schriftmedien » Schriftrolle
Technische Daten

Der Papyrus besteht heute aus insgesamt vier Kolumnen („Blätter“ Nr. A–D bei Erman) von je 24–25 cm Breite und mit einer Höhe von 19–20 cm (Erman 1893, 120), die alle ungefähr in der Mitte durch einen dünnen Bruch leicht beschädigt sind. Zudem befinden sich bei allen Blättern unterschiedlich große Fehlstellen, die sich v.a. auf den unteren Bereich und die erste Kolumne konzentrieren.
Mindestens der Anfang und das Ende fehlen; Erman 1893, 120 vermutet zudem ein fehlendes Blatt zwischen „Blatt“ B und C (nach seiner Benennung, d.h. zwischen Kol. 2 und 3). Er mutmaßt, dass „die fehlenden Blätter von seinem ursprünglichen [modernen] Besitzer in eine andere Sammlung verkauft worden“ sind (Erman 1893, 120).
Der Papyrus wurde schon 1819 oder in den frühen 1820er Jahren entrollt,  auf Papier geklebt und in einen Glasrahmen eingepasst (Marucchi 1902, 256: „quadro“ Nr. 12 bei Champollion, 1825, und Nr. 19 bei Marucchi, 1902). Während der Untersuchung von Suys 1934 stellte dieser fest, dass das Verso einen weiteren magischen Text mit vielen Rubra enthält. Diese Rubra waren allerdings kaum noch lesbar (Suys 1934, 63–64).
Auffällig sind einige Unterschiede im Erscheinungsbild des Papyrus im Vergleich der Abbildungen von Suys 1934 mit denen ca. ein halbes Jahrhundert später bei Gasse 1993. So ist bspw. bei letzterer die erste Kolumne wesentlich stärker von Abrieb betroffen und an anderen Stellen erscheinen plötzlich Striche und ähnliche Figuren, die es bei Suys (noch (?)) nicht gab (z.B. bei mꜣꜣ in Zeile 2,9). Ist dies bloß mit der von Suys 1934, 64, Anm. 1 erwähnten Retuschierung des Papyrus für die Publikation zu erklären oder handelt es sich um den veränderten heutigen Erhaltungszustand, vielleicht infolge der Ablösung des Papierhintergrunds?

Schrift
Hieratisch

Der Text ist hauptsächlich in schwarzer Tinte geschrieben. An Abschnittswechseln sind die ersten Worte des neuen Absatzes in roter Tinte. Zudem sind rote Gliederungspunkte gesetzt worden.

Sprache
Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Neuägyptisch, Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Mittelägyptisch

Nach Erman 1893, 120 handelt es sich um einen „in halb vulgärer und halb alterthümlicher Sprache verfaßt[en]“ Text, d.h. er ist im Grunde Mittelägyptisch, der mit zahlreichen Neuägyptizismen durchsetzt ist. So ist die häufige Verwendung von Artikeln und Possessivpronomen auffällig. Auch die Orthographie ist stärker am Neuägyptischen orientiert. Zudem ist die Fehlerrate verhältnismäßig hoch („man hat den Eindruck, als sei keine Zeile in dem Text, die wirklich in Ordnung sei“) (Erman 1893, 120).

Bearbeitungsgeschichte

Bisher wurde nur das Recto publiziert. Die Erstedition erfolgte durch Orazio Marucchi (1852–1931, Direktor der ägyptischen Sammlung des Vatikan) 1891 mit Photos (eingefärbt für die Rubra), hieroglyphischer Transliteration und Übersetzung einiger Stellen sowie einer groben inhaltlichen Bestimmung des Papyrus. Gerade die Tatsache, dass Marucchi den Text als ein seltenes Zeugnis eines magischen Textes identifizierte, ließ ihn diesen Papyrus als nur einen von drei photographisch reproduzieren. Dadurch konnte Erman 1893 eine Neuanordnung der Papyrusfragmente vorschlagen, der seitdem gefolgt wird. In diesem Zusammenhang publizierte er neue hieroglyphische Transliterationen und Übersetzungen von Kol. 1.1–2.1 und 2.2–7 und besprach die Körperteile der Gliedervergottung.
1934 nahm Suys eine Neuedition vor, bei der er die Angaben Ermans einarbeitete und somit eine  neu arrangierte Photographie sowie erstmalig eine Komplettübersetzung und Kommentierung des Rectos sowie eines Fragments des Versos vorlegte.
Die jüngsten publizierten Photographien, mit einigen bis dahin unveröffentlichten Fragmenten, finden sich bei Gasse 1993, Taf. 7–8. Sie thematisiert den Papyrus nicht weiter, sondern verweist (S. 20) auf die bevorstehende (Neu-)Publikation von C. Sturtewagen, die bis heute nicht erschienen ist. Die jüngste Übersetzung mit stilistischer Strukturierung, Kommentierung und inhaltlicher Besprechung stammt von Stegbauer 2015.
Das Verso ist bis auf den Auszug von Suys unveröffentlicht.

Editionen

- Gasse 1993: A. Gasse, Les papyrus hieratiques et hieroglyphiques du Museo Gregoriano Egizio, Monumenti musei e gallerie pontificie. Museo Gregoriano Egizio. Aegyptiaca Gregoriana I (Vaticano 1993), 20 (Nr. 5), Taf. 7–8.

- Marucchi 1891: O. Marucchi, Monumenta Papyracea Aegyptia Bibliothecae Vaticanae (Romae 1891), 91–96, Taf. 2–3 (beste Photos, aber die Fragmente sind in der falschen Reihenfolge).

- Suys 1934: P. E. Suys, Le papyrus magique du Vatican, in: Orientalia 3, 1934, 63–87.

Literatur zu den Metadaten

- Champollion 1825: J.-F. Champollion, Catalogo de’ papiri egiziani della Biblioteca vaticana e notizia piu estesa di une d’esse con breve previo discorso e con susseguenti riflessioni (Roma 1825), 26.

- Erman 1893: A. Erman, Der Zauberpapyrus des Vatikan, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 31, 1893, 119–124.

- Marucchi 1902: O. Marucchi, Catalogo del Museo egizio Vaticano con la traduzione dei principali testi geroglifici (Roma 1902), 267–268, 283–286 (Nr. 19a).

- Stegbauer 2015: K. Stegbauer, Magie als Waffe gegen Schlangen in der ägyptischen Bronzezeit (Borsdorf 2015), 277–290 (Spruch 51) (doi.org/10.11588/propylaeum.529).

Eine vollständige Bibliographie finden Sie hier.

Autoren
Dr. Katharina Stegbauer

Übersetzung und Kommentar

x+1. Szene

[1,1] [...] Amme.
Da [... Isis]1, indem sie zu ⟨ihrem⟩ Sohn Horus sprach:
„Mögest du eilen [...]2
[Da] sprach Horus:
„[Du sagst zu mir:] ‚Geh für mich, beschwöre deinen Onkel‘, [… weil]3 er zu mir gesagt hat, als er stark war:
‚Du [...]‘“
[Da] sprach Isis zu ihrem Sohn Horus:
„Ist es denn nicht dein Onkel, der [...], indem er erschrocken ist?4
Dieser Feind, er ist nicht [...], [er verlässt] sein Haus, wobei er im Himmel herumschreit, [1,5] [während er] auf der Erde umhergeht, wobei seine [lauten] Schreie von weitem gehört werden, indem sie draußen (um Hilfe) rufen.“

1 Die Spuren nach ꜥḥꜥ.n sind auf dem Photos bei Gasse 1993 nicht mehr zu lesen. Mit großer Wahrscheinlichkeit muss der Gottesname Isis ergänzt werden, welches Verbum davor stand, muss aber offen bleiben.
2 Am rechten Rand der ersten Seite des Papyrus fehlen ca. 2–3 cm (vgl. Erman 1893) Der Platz, den Suys 1934 für Ergänzungen einräumt, ist deshalb i.d.R. zu knapp berechnet. Die Rede muss daher um einiges länger gewesen sein, als man aufgrund der Publikation Suys’ vermutet. Inhaltlich enthält sie die Aufforderung Isis' an Horus, dem gebissenen Seth zu Hilfe zu eilen.
3 Auch am Anfang der Z. 3 fehlt ein ganzes Stück, vielleicht die einstweilige Weigerung Horus’, der Aufforderung nachzukommen, die dann durch ḏd=f n=j begründet worden wäre. (Vgl. a. J. F. Borghouts, The Magical Texts of Papyrus Leiden I 348 (Leiden 1971), 17).
4 Die Konstruktion jsṯ bn drückt nach J. Černý – S. Groll – C. Eyre, A Late Egyptian Grammar, Studia Pohl 4 (Rom 1975), § 61,5, eine starke Verwunderung auf Seiten des Fragestellers aus. Isis hakt also nach und erklärt Horus wohl, dass sein Onkel („dieser Feind“) im Moment nicht gefärlich ist, da er aufgrund der Schmerzen herumschreit und Hilfe braucht.

x+2. Szene

[Als aber] die Götter und Göttinnen [kamen],1 war ein jeder von ihnen unter [...], [als] er das Gift diagnostizierte2, während es stark und dauerhaft war, als er es zerschlagen (wollte) auf der Oberseite des B[isses], als er es vertreiben (wollte) wie Rotz der Nase, [als er] es zerstreuen (wollte) wie das Zerstreuen von Erbrochenem durch das Verfertigen eines kleinen Götterbildes aus Blut, [...] über seinem Herzen.

1 Die Ergänzung der Lakune durch Suys 1934 ḥr ḥḥ „beim Suchen“ ist durch das bei Gasse 1993 abgebildete Fragment obsolet, da dort deutlich ẖr zu lesen ist. Vermutlich ist eine negative Emotion (Trauer, Angst o.ä.) zu ergänzen. Meine Rekonstruktion am Satzanfang stützt sich auf die, in den Sprüchen des pBM EA 9997 des Öfteren vorkommende, Konstruktion jwj jrf, wobei die Schwanzspitze des f.png von jrf noch zu sehen ist. Erman 1893 ergänzt an dieser Stelle nꜣy=f nṯr.w.
2 gmj „finden“ wird m.E. hier im med. Sinne gebraucht.

x+3. Szene

Die Götter und Göttinnen schrien [zu Horus], damit sein Gesicht ⟨auf⟩ seine Stärke1 ⟨gerichtet⟩ wäre, denn er sollte [1,10] [...] das Gift töten, damit er Seth, den Sohn der Nut, belebe.
Sein Auge ⟨ruhte auf⟩ allen Ländern, die unter seinem (= Horus‘) Glanz waren, indem er den stärkte [...], sprechend:
Steh auf, Seth, Geliebter des Re, stelle dich auf [deinen] Platz [in der Barke] des Re, damit er erfreut ist über den Triumph, wenn [2,1] der Feind ⟨deines⟩ Vaters Re niedergeschlagen wird im Verlauf eines jeden Tages.

1 Oder ist hier, trotz des Determinativs, nḫt „Starker/Riese“ zu lesen, was auf Seth bezogen werden könnte? Zu Seth als Kraftprotz und evtl. riesenhaften Wesen vgl. G. Vittmann, „Riesen“ und riesenhafte Wesen in der Vorstellung der Ägypter, Veröffentlichungen der Institute für Afrikanistik und Ägyptologie der Universität Wien 13 (Wien 1995), 28–30.

x+4. Szene: Gliedervergottung

⸢Es gibt kein Glied an ihm⸣ [ohne Gott],1 von seinem Kopf bis zu seinen Sohlen:
Du sollst keinen Halt finden in seinem Scheitel, denn Thot ist gegen dich, der Herr seines Scheitels!
Es gibt keinen Ruheplatz, steige zur Erde herab, o Gift!
Ich bin es, der dich beschwört, der dich schmäht, der dich vernichtet, der dich bespuckt, der dich entfernt aus allen Gliedern des NN, geboren von NN.

1 Die Zeichenreste am Anfang des Verses lassen sich m.E. gut zu der in Gliedervergottungen häufig belegten Formel ergänzen. Vgl. ꜥ.t in 2,3, oder das Fleischdeterminativ am Ende der Zeile (2,1).

1. Parenthese

O Gift, sei schwach, denn du kannst nicht siegreich sein, sei blind, denn du kannst nicht sehen, sei niedergeworfen, denn du kannst das Gesicht nicht erheben, geh in die Irre, denn dein Blickfeld wird nicht geöffnet sein, [2,5] sei benommen, du kannst nicht stechen!
Sei vertrieben, denn [du] kannst deinen Weg nicht [finden]!
Sei liquidiert, denn du kannst nicht fest sein!
Stirb, denn du kannst nicht leben!
Unter1 das Messer bist du geworfen, o Gift, durch das Sprechen [seitens] Thots, des Ältesten, des Sohns des Re, des Abkömmlings dessen, dessen Name verborgen ist, ⟨durch⟩ den Spruch des Herrn seines Scheitels!

1 Oder bedeutet hier ẖr „aus“? Dann wäre „Aus der Wunde bist du geworfen, o Gift“ eine weitere, sinnvolle Übersetzung.

Fortsetzung der Gliedervergottung

Du sollst keinen Halt finden in seiner Stirn, denn [Weret]-Hekau ist gegen dich, die Herrin seiner Stirn!
Du sollst keinen Halt finden in seinen Augen, denn Haroëris ist gegen dich, der Herr seiner Augen, der Herr von On, der den Norden niederstreckt, der Truppenoberst der Nut, der die Wege der Neunheit öffnete, als Re geblendet war, ohne dass er sehen konnte, der auf ihm (dem Weg?)1 schritt, der sein Gesicht verhüllte vor den Verwesten (= der den Verwesten gnädig war ?), [2,10] als die vier Balsamierer des [Re] niedergeschlagen wurden, als sie Menschen waren.

1 Die Verse ab thm.w sind mir inhaltlich nicht klar.

2. Parenthese

Halt an, o Gift, damit ich [3,1] deinen Namen entdecken kann gemäß deiner Art!
Komm doch nach drauß[en in]folge meines Spruchs, o Gift!
Komm aus seiner Rechten, komm aus seiner Linken!
Komm als Erbrochenes, komm als Schweiß!
Komm als Gesicht irgendwelcher Vögel, in die du eingetreten bist!
Eile doch, um die Abendbarke auszusenden, um die Morgenbarke absegeln zu lassen, zu den Göttern und Göttinnen, deren Herzen zaudern.1

1 Eine ähnliche Formel kommt auf dem Socle Behague vor (A. Klasens, A Magical Statue Base (Socle Behague) in the Museum of Antiquities at Leiden, Oudheidkundige Mededelingen vit het Rijksmuseum van Oudheden 33 (Leiden 1952), 97, f 37). Dort handelt es sich aber um eine Rede des Thot an Isis: Nachdem er die Ammen von Chemmis angewiesen hat, auf das Horuskind acht zu geben, verabschiedet er sich von Isis, um Re-Horachte den Heilungserfolg zu verkünden (vgl. A. Klasens, A Magical Statue Base (Socle Behague) in the Museum of Antiquities at Leiden, Oudheidkundige Mededelingen vit het Rijksmuseum van Oudheden 33 (Leiden 1952), 58).
Eine genaue Parallele findet sich dagegen im pGeneve MAH 15274, rt. 7,8 (A. Massart, The Egyptian Geneva Papyrus MAH 15274, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 15, 1957, 180). Da ich das von Massart angesetzte sjn „warten“ (Wb 4, 38,4) für unsinnig halte, lege ich meiner Übersetzung sjn „eilen“ (Wb 4, 38,12) zugrunde. Statt jnj „zaudern“ wie pGeneve MAH 15274, rt. 7,8 schreibt der vorliegende Papyrus jnn „umwenden“, was hier m.E. semantische Schwierigkeiten aufwirft, es sei denn, die Erkenntnis von W. Westendorf, Eilen und Warten, in: Göttinger Miszellen 46, 1981, 27–33, der zeigt, dass sjn „warten“ und sjn „eilen“ Bedeutungsvarianten ein und desselben Wortes sind, ist auch auf jn und jnn anwendbar.

Fortsetzung der Gliedervergottung

Du sollst keinen Halt finden in seinen Lippen, denn die große Seschat ist gegen dich, die Herrin seiner Lippen, die große Götin, die die [Fei]nde der Götter und der Menschen aufspießt.
Du sollst keinen Halt finden in seinem Gebiss.
Wenn sein Herz freundlich ist1, [3,5] ist es Horus, wenn es schmerzt, ist es Seth, Ptah-Tatenen, der ⟨mit⟩ seine(n) Amuletten errettet, die zwei gewaltvollen Götter, die ihren Vater Res-Udja bestatten.
Du sollst keinen Halt finden in seiner Schläfe, denn die Morgenbarke, [...], ist gegen dich, die Herrin seiner Schläfe!
Du sollst keinen Halt finden in seiner Zunge, denn Nefertem ist gegen dich, der Herr seiner Zunge!
Du sollst keinen Halt finden in seinem Kinn, denn Min, hoch an Federn, ist gegen dich, der Herr seines Kinns, der große Gott, der sich seiner Schönheit rühmt, der Herrscher der Sterne2.
Du sollst keinen Halt finden in seiner Kehle, denn die oberägyptische Meret ist gegen dich, die Herrin seiner Kehle, die heilige Sängerin an jedem Tag, die [das Herz] eines jeden Gottes [zufriedenstellt]3.
Du sollst keinen Halt finden in seinem Nacken, denn Uto ist gegen dich, die Herrin seines Nackens, die Herrin der Stele, die inmitten der beiden Horizonte ist.
[Du] sollst keinen [Halt finden] in [3,10] seinen Gliedmaßen, denn Nut, die die Götter geboren hat, ist gegen dich, die Herrin seiner Gliedmaßen.
Du sollst [keinen] Halt finden in seinen Schultern, denn die Schepesut-Göttinnen, die sich befinden in [... sind gegen dich], [4,1] die Herrinnen seiner Schultern.
Du sollst keinen Halt finden in seinen Armen, der Rechte ist Horus, der Linke ist Seth, die zwei gewalt[vollen] Götter die ⟨ihren⟩ Vater Res-Udja bestatten.
Du sollst keinen Halt finden in seinen Fingern, denn Ptah-Nun-Wer, der Schöpfer [...] ist gegen dich, der Herr seiner Finger.
Du sollst keinen Halt finden in seinen Achseln, denn Geb, der Vater der Götter ist gegen dich, der Herr seiner Achseln, der Herr des Zorns, der Schreckensmächtige.
[Du] sollst keinen Ha[lt finden] in seinen Flanken, denn die geheimen Tore, die Erstgeborenen des Re-Horachte, sind gegen dich, die Herren seiner Flanken.4
Du sollst keinen Halt finden in seinem Magen, denn die Hand des [4,5] Horachte ist gegen dich, die Herrin seines Magens.
Du sollst keinen Halt finden in seinem Herzen, denn Atum, der Herr der beiden Länder, ⟨der Herr⟩ von On, ist gegen dich, der Herr seines Herzens.
[Du] sollst [keinen Halt finden] in seiner Leber, in ⟨seiner⟩ Milz und ⟨seiner⟩ Lunge, in irgendeinem seiner Eingeweide, denn Amset, Hapi, Duamutef und Qebehsenuef sind ⟨gegen⟩ dich, die großen Götter, die in seinem Leib sind.
Du kannst keinen Halt finden in seinen Rückenwirbeln, denn das Schlangenmännchen, das aus On stammt, ist gegen dich, der Herr seiner Rückenwirbel, der „der den Bedarf festlegt“ heißt, wenn er tötet [...], [...]5
Du sollst keinen Halt finden in seinem Hintern, denn Sachmet ist gegen dich, die Herrin seines Hintern.
Du sollst keinen Halt finden in [seinem Damm], [4,10] denn Seth ist gegen dich, der Herr seines Dammes, der ⸢große Gott⸣,[der innerhalb der] Neunheit [lebt].6
Du sollst keinen Halt finden in seinem Penis, denn der h[ochfedrige] Min ist gegen dich, der Herr seines Penis.
Du sollst keinen Halt finden in seinen beiden Schenkeln, denn Month, der als Kämpfer agiert, ist gegen dich, der Herr seiner Schenkel.
[Du] sollst [keinen Halt finden ...]7

1 M.E. handelt es sich bei ḥꜣ.tj=f hnw um eine idiomatische Verbindung. Sinngemäß müssten mit „gut“ und „schlecht“ die Zähne gemeint sein. Wie schon Suys (1934) anmerkt, fügen sich die Verse 85 f. nicht recht in den Kontext ein.
2 Das letzte Wort des Verses, ḫꜣbꜣs geschrieben, wird von Suys mit „barbe prosteriche“ übersetzt. Leider ist die Parallele pGeneve MAH 15274, rt. 2,2–3 zu zerstört, um hier Hilfestellung zu bieten. Jedoch erscheint es mir wahrscheinlicher, dass hier ḫꜣbꜣs (Wb 3, 230,1) vorliegt als das von Suys angenommene ḫbs.wt „Bart“, denn für ersteres ist eine ganz ähnliche Schreibung in pTurin 1886, PuR 20, 10 belegt. Statt des Sterndeterminativs sb___.png steht in pVatikan 38573 jedoch ein nach rechts unten gehender Strich, den Massart als aufrecht stehendes Horn interpretiert, in dem ich jedoch einen Götterbart erkennen möchte, mit dem zumindest in griechisch-römischer Zeit ḫꜣbꜣs geschrieben werden kann. Das Epitheton „Herrscher der Sterne“ wird in griech. Zeit dem Osiris gegeben (vgl. Leitz, Lexikon der ägyptischen Götter und Götterbezeichnungen. Band V. , Orientalia Lovaniensia Analecta 114 (Leuven/Paris/Dudley, MA 2002), 519).
3 Zur Lesung vgl. W. Guglielmi, die Göttin Mr.t. Entstehung und Verehrung einer Personifikation, Probleme der Ägyptologie 7 (Leiden/New York/København/Köln 1991), 107.
4 Wie Suys 1934, 85, anmerkt, dürfte hier ein komplexes Wortspiel vorliegen: sbḫ.wt (Tore) = rw.tj (Doppeltor) = Rw.tj (Löwenpaar Schu und Tefnut).
5 Das letzte Wort in 4,8 ist auf den Photos nicht zu entziffern. Der Anfang von 4,9 ist zwar gut lesbar, aber der Text ist zu verderbt für eine sinnvolle Übersetzung.
6 Als Ergänzung habe ich die Formel aus pGeneve MAH 15274 rt. 2,1–2 herangezogen. Dort wird der Damm zwar Sobek unterstellt, doch abgesehen davon sind die Formeln identisch.
7 Der Papyrus bricht hier ab.

Übersetzung nach Stegbauer 2015, 277–290 (Spruch 51).