Mantik und Divination
Dokumente zu diesem Wissensbereich
Nach dem altägyptischen Weltkonzept ist das göttliche Eingreifen in der ganzen Natur etwas Selbstverständliches. Dieses zu erklären und vorauszusehen sind Wissensbereiche, die heute unter die im Grunde synonymen Begriffe Divination und Mantik fallen. Deren Methodik hat Alexandra von Lieven in ihrem grundlegenden Artikel zur Divination im Alten Ägypten (Altorientalische Forschungen 26 (1), 1999, 77-126) in zwei Verfahren eingeteilt:
- Die aktive und individualisierte Nachfrage bei einem Gott mit anschließender Deutung der Antwort. Dieses Verfahren zeichnet sich theoretisch durch eine direkte Interaktion zwischen dem menschlichen Fragesteller und dem göttlichen Gegenüber aus. Praktisch gesehen ist oft eine Mittlerrolle dazwischengeschaltet, die von ausgebildeten Priestern und Magiern eingenommen wurde. Einen Spezialfall aus der Siedlung Deir el-Medineh bildet die sogenannte „weise Frau“, die ebenfalls um Rat gebeten werden konnte.
- Die Ausdeutung von Naturerscheinungen verschiedenster Arten, die als göttliches Eingreifen betrachtet werden. Hierbei werden nicht die Götter selbst befragt, sondern nur ihre Handlungen ausgedeutet; dieses Verfahren ist demzufolge passiver und in seinen Aussagen allgemeiner als das erste.
1. Verfahren: Aktive Nachfrage
Der einzige Vertreter dieses Verfahrens und gleichzeitig die bekannteste Form der ägyptischen Divination ist das Orakel. Seit dem Besuch Alexanders des Großen in der Oase Siwa dominiert in der späteren, v.a. modernen Rückschau die Vorstellung des sprechenden Orakels, das man direkt im Tempelinneren befragen konnte und das gegebenenfalls detaillierte Auskunft geben kann. Tatsächlich ist diese Praxis aber eine Eigenheit des Orakels von Siwa. Belege für vergleichbare Praktiken im ägyptischen Kernsiedlungsgebiet sind extrem selten und sehr spät (G. Loukianoff, in: ASAE 36, 1936, 187-193, G. Brunton, in: ASAE 47, 1947, 293-294, vorgeschlagen bei Witthuhn et al., Die Bentresch-Stele. Ein Quellen- und Lesebuch, GM Occasional Studies 2, Göttingen 2015, 83–87; eine Orakelstatue der Arsinoe ist sehr unsicher, s. hier). Die für das pharaonische Ägypten eigentlich typische Praxis ist vielmehr das Prozessionsorakel: Bei religiösen Festumzügen wurde ein Götterbild auf einer kleinen Barke von Priestern von einem Tempel zu einem anderen getragen, und die Festbesucher konnten die betreffende Gottheit mündlich oder schriftlich um eine Entscheidung in einer offenen Frage bitten. Die Antwort der Gottheit geschah durch Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung der Barke; eine spätere Alternative ist die Vorlage von zwei Papyrusstreifen, von denen die Gottheit einen „nehmen“ konnte und den anderen dadurch verwerfen würde.

Beide Verfahren beschränken sich auf Fragen, die man mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten konnte. Zum Teil überlieferungsbedingt, erscheint uns die Ramessidenzeit (13./12. Jh. v. Chr.) als Hochphase des Prozessionsorakels sowohl im königlich-politischen als auch im nichtköniglich-privaten Kontext. In den nachfolgenden ersten beiden Jahrhunderten, der beginnenden 3. Zwischenzeit, bildet im thebanischen Herrschaftsgebiet das Orakel sogar vordergründig die wichtigste Art der politischen Entscheidungsfindung. Im privaten Bereich sind in dieser Zeit vor allem die sogenannten Oracular Amuletic Decrees zu nennen, Papyrusamulette, in denen die angerufenen Götter ihren Trägern, meist kleinen Kindern, Schutz vor einer Vielzahl von Gefahren gewähren.
2. Verfahren: Ausdeutung göttlicher Zeichen
Eine erste Untergruppe dieses Verfahrens ist die Tagewählerei bzw. Hemerologie. Ihr Hauptvertreter sind zwei Papyri aus der Ramessidenzeit. Aber diese gehen teilweise auf ältere Quellen zurück, und die Anfänge dieser Praxis lassen sich bis mindestens ins Mittlere Reich (20.–18. Jh.) verfolgen. Bei der Tagewählerei wird jeder Tag des Kalenderjahres, genauer gesagt: die drei Tages- und drei Nachtzeiten eines jeden Kalendertages, danach beurteilt, ob sie „gut“, „ungewiss“ oder „gefährlich“ sind. Daran schließt sich in vielen Fällen die Erwähnung von Götterfesten sowie damit verbundener mythischer Ereignisse an, die wiederum oft einen Niederschlag in einem Naturereignis finden. Darauf aufbauend können Ratschläge genannt sein, was an dem betreffenden Tag zu tun oder zu unterlassen ist, mitunter gefolgt von einem Urteil zum Schicksal von an diesem Tage geborenen Menschen. Während in diesem Kalender die positiven Bewertungen überwiegen, wird von der Spätantike bis in die Neuzeit hinein in vielen Kalendern eine bestimmte Sorte von Unglückstagen als dies Aegyptiaci, „Ägyptische Tage“, bezeichnet, s. G. Keil, Die verworfenen Tage, in: Sudhoffs Archiv 41, 1957, 27–58. Neben solchen Quellen für eine Bewertung einzelner Tage gibt es auch einen Text, der göttliche Vorzeichen auflistet, die für jeweils einen ganzen Monat Geltung haben.
Auch die Sternenkunde diente in Ägypten der Ausdeutung und Vorhersage göttlichen Wirkens, und die ägyptische Astronomie ist nicht ohne Astrologie zu denken. Konkret der Aspekt der Vorhersage ist zwar erst ab der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrtausends in den Quellen wirklich spürbar und stark von mesopotamischen Einflüssen geprägt. Aber er erlebt in der griechisch-römischen Zeit Ägyptens eine solche Blüte, dass die griechischen und lateinischen Autoren das ägyptische Wissen in diesen Bereichen besonders hervorheben. Welchen Einfluss die Gestirne auf den menschlichen Körper haben, lässt sich bspw. an den Texten auf dem sogenannten „Naos der Dekaden“ ablesen, einem Schrein zur Aufnahme einer Statue des Licht- und Luftgottes Schu, der gleichzeitig der Herr der 36 Dekansterngruppen ist. Unmittelbar anwendungsbezogen schlägt sich dieser Einfluss in Horoskopen nieder, von denen die ältesten aus der Zeit der Kleopatra (VII.) stammen, s. M. Escolano-Poveda, in: Journal for the History of Astronomy, 53(1), 2022, 49–87, S. 50 und 79, Anm. 8. Etwas älter sind Mondomina, d.h. die Deutung bestimmter Mondphasen: Schon die Chronik des Prinzen Osorkon aus dem 8. Jh. verbindet einen Aufstand mit einer Mondfinsternis, wobei umstritten ist, ob der Aufstand ausbrach, obwohl eine Mondfinsternis stattfand, oder, bevor sie stattfand. Priesterhandbücher geben in späterer Zeit Aufschluss über eine ganze Reihe von Ereignissen, die unter dem Einfluss von Mondphasen stehen.
Neben den Bewegungen der Himmelskörper luden auch die Tier- und Pflanzenwelt zur Vorhersage ein. Die aus anderen Kulturkreisen bekannte Vogelschau muss es auch in Ägypten gegeben haben, selbst wenn die Hinweise darauf extrem spärlich sind und sich auf Andeutungen in nichtägyptischen Quellen beschränken. Die Ausdeutung anderer tierischer Bewegungsmuster ist dagegen direkter bezeugt, besonders ansprechend ist Papyrus Berlin P 15680, der zukünftiges Schicksal daraus ableitet, auf welchen Körperteil nachts beim Schlafen ein Gecko fällt, s. hier. Daneben gibt es eine Fülle anderer Techniken (überblickshaft F. Naether, Die Sortes Astrampsychi. Problemlösungsstrategien durch Orakel im römischen Ägypten, Orientalische Religionen in der Antike 3, Tübingen 2010, 18-21), die jedoch in den ägyptischen Quellen oft nur bruchstückhaft oder nur in sekundären Erwähnungen erhalten sind und daher über das Ziel dieser Website hinausgehen.
Grenzgänger
Ein Grenzgänger zwischen den beiden genannten Verfahren bildet die Traumdeutung. Denn obwohl Träume im Regelfall nur passiv erfahrbar sind, können sie in Form des Tempelschlafs auch aktiv gesucht werden. Der Papyrus Chester Beatty III enthält den umfangreichsten und am besten erhaltenen Text zur Traumdeutung: Er folgt dem Muster: „Wenn sich ein Mann im Traum sieht, wie/während xy passiert, dann ist das gut/schlecht.“ In der griechisch-römischen Zeit steigen die Hinweise auf Traumdeutung und die Zahl der Traumhandbücher an, doch sind diese stark zerstört. Seit der Ramessidenzeit sind auch aktive Suchen nach Traumbildern bekannt; in einem kleinen Text aus dem Tal der Könige (A. Dorn, Andreas, Arbeiterhütten im Tal der Könige. Ein Beitrag zur altägyptischen Sozialgeschichte aufgrund von neuem Quellenmaterial aus der Mitte der 20. Dynastie (ca. 1150 v. Chr.), Aegyptia Helvetica 23, Basel 2011, Bd. 1, 452f.) wünscht bspw. ein Arbeiter, von einem Augenleiden erlöst zu werden, und bittet eine unbekannte Gottheit darum, eine Meerkatze „sehen“ zu können – im Traum, wie die Phraseologie zeigt. In der griechisch-römischen Zeit ist diese aktive Suche institutionalisiert: Im Rahmen des Tempelschlafes suchen vor allem Kranke und Personen mit Kinderwunsch einen Tempel auf, um in dessen Räumen einen wohlwollenden Traum empfangen zu können. Zu den bestnachgewiesenen Orten hierfür gehört der Tempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari, in den später aus unbekannten Gründen ein Einbau für Imhotep und Amenhotep, Sohn des Hapu, zwei „Schutzheilige“ der Heilkunst, errichtet wurde.