Ostrakon Bruxelles E 3209

Metadaten

Wissensbereiche
Aufbewahrungsort
Europa » Belgien » Brüssel » Musées Royaux d'Art et d'Histoire

Inventarnummer: E 3209

Erwerbsgeschichte

Laut Inventarbuch des Museums wurde das Ostrakon von Jean Capart während seiner Ägyptenreise im Winter 1906/1907 mittels einer Spende des Barons Édouard L. J. Empain (1852–1929) von Hanna Girgis Morgan, einem in Luxor sesshaften Antiquitätenhändler, angekauft. Empain begann zu dieser Zeit mit dem Bau der modernen Stadt Heliopolis (Mir al-ǧadīda) nordöstlich von Kairo und beschenkte das Museum von Brüssel mit Altertümern (Bierbrier 2012, 178). Das Ostrakon bekam die Inventarnummer E 3209. Angesichts dieser für 1907 zu hohen Inventarnummer wurde es nach Constant De Wit wohl erst einige Jahre später inventarisiert (van de Walle 1967, 13). In seiner Sammlung ägyptischer Inschriften aus den „Musées Royaux du Cinquantenaire“ in Brüssel von 1923 hat L. Speleers das Ostrakon bereits unter der Nummer E 3209 aufgenommen, sodass es spätestens zu diesem Zeitpunkt im Museum inventarisiert gewesen sein muss. A. de Caluwe (1999) nennt 1911 als Jahr der Inventarisierung.

Herkunft
Niltal südlich von Assiut bis zum 1. Katarakt » Theben

Das Ostrakon wurde von Capart in Luxor erworben (van de Walle 1967, 13). Dies lässt die Vermutung zu, dass es aus diesem Raum stammt. Auch das Material (Kalkstein) und die paläographische Datierung (spätes Neues Reich) passen zu einer Herkunft aus Theben-West.

Datierung
(Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Neues Reich » 20. Dynastie

Van de Walle 1967, 13 datiert das Ostrakon aufgrund der Paläographie „de la fin du Nouvel Empire“, d.h. die 20. Dynastie. Ohne gutes Photo kann dies bei dieser literarischen Handschrift nicht überprüft werden, aber eine Datierung nach der 18. Dynastie ist sicher (s. z.B. die Graphie von wbꜣ).

Textsorte
Inhalt

Das Ostrakon enthält insgesamt vier Sprüche zum Heilen von Gift, das mit der Göttin Tabitjet verbunden ist und deshalb vermutlich Skorpiongift ist. Allerdings wird Tabitjet auch mit dem Uräus verbunden, so dass es ebenfalls Schlangengift sein könnte. Der mythologische Hintergrund ist, dass Tabitjet eine Horusfrau ist, die durch Horus entjungfert wurde, wobei das Blut auf die Erde tropfte. Das Blut, das Tabitjet bei der Entjungferung oder bei einer Geburt (?) verliert bzw. dessen sich Horus bemächtigt, wird irgendwie mit dem Gift parallelisiert, das den Körper des Patienten verlassen soll. Die Sprüche sind fehlerhaft überliefert und stellenweise nicht leicht zu übersetzen. Im ersten Spruch ruft der Magier den Horus an, der mit seinem (sexuellen) Sieg über (Ta)bitjet qualifiziert wird. In ähnlicher Weise wird der Magier über das Gift der Tabitjet siegen. Der zweite Spruch verfährt ähnlich. Hier fordert der Magier das Blut der (Ta)bitjet, der Gemahlin des Horus, auf, (aus dem Körper) zu ihm zu kommen, denn er ist Horus.
Im dritten Spruch identifiziert sich der Magier mit Horus, dem Arzt. Das „schmerzende Wasser“ (= Gift) wird aufgefordert, den Körper des Patienten zu verlassen, so wie es aus (Ta)bitjet herausgekommen ist. Der letzte Spruch enthält nur einen direkten Befehl an das „schmerzende Wasser“ (= Gift), den Körper des Patienten zu verlassen (derselbe Satz ist schon in Spruch 3 eingebaut).
Der Patient erscheint nur in den Sprüchen 2 und 3 explizit und wird dort als „NN, geboren von (Frau) NN“ bezeichnet. Die Sprüche sind also nicht für einen spezifischen Patienten ausgewählt worden, sondern haben allgemeine Gültigkeit.

Ursprünglicher Verwendungskontext

Das Ostrakon enthält vier Sprüche gegen Skorpiongift, die für einen beliebigen Patienten („NN, geboren von (Frau) NN“) gedacht sind. Als solches könnte es Bestandteil der Handbibliothek eines entsprechenden Heilers gewesen sein. Die Verspunkte passen zu einem Text, der rezitiert werden musste.

Material
Nicht Organisch » Stein » Kalkstein
Objekttyp
Artefakt » Schriftmedien » Ostrakon
Technische Daten

Das Ostrakon hat eine Höhe von 24,5 cm und eine Breite von 20,5 cm (Dicke unbekannt). Die Form ist grob rechteckig mit einem geraden oberen und rechten Rand, bzw. links und unten eher gerundet. Bis auf wenig Abrieb bzw. einige Abplatzungen an verschiedenen Stellen ist der Text gut erhalten. Dieser ist nur auf einer Seite des Ostrakons angebracht und besteht aus 12 Zeilen Hieratisch (van de Walle 1967, 13 und Fig. 2).

Schrift
Hieratisch

Die Schrift ist fast durchgehend schwarz. Zur inhaltlichen Zäsur wurde rote Tinte für das Anfangswort der Sprüche genutzt. Auch rote Gliederungspunkte wurden gesetzt. Soweit auf dem Photo erkennbar, ist der Text in einer guten literarischen Handschrift geschrieben.

Sprache
Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Neuägyptisch, Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Mittelägyptisch

Die zugrunde liegende Grammatik entspricht der des Mittelägyptischen. Vereinzelt scheinen jedoch jüngere grammatische Formen durch (wie Futur-III in Zeile 3). Die Verwendung von Wörtern wie šrj.t (Z. 2 und 11), Pꜣ-Rꜥw (Z. 2), mj-n (Z. 7 und 11) und r-bnr (Z. 11) weisen auf eine Abfassungszeit oder Überarbeitungszeit einzelner oder aller Sprüche hin, als Neuägyptisch gesprochen wurde.

Bearbeitungsgeschichte

Nach dem Erwerb stellte Capart das Ostrakon W. Spiegelberg zur Verfügung, der „une première copie“ anfertigte (van de Walle 1967, 13). Laut Speleers 1923, 207b geschah dies „il y a une quizaine d’années“, d.h. ca. 1908. Speleers publizierte 1923 (57, 148) eine erste hieroglyphische Transliteration des hieratischen Textes mit einer Umschrift und einer Übersetzung. Nachträglich konnte er dank der „copie“ Spiegelbergs einige Verbesserungen an seiner eigenen Lesung und Übersetzung vornehmen (Speleers 1923, 207b und 208a). Er beschreibt den Text als „Hymne à Horus“ und „formule médicale“ (Speleers 1923, 57). Gardiner kannte das Ostrakon auch und zitiert es mehrfach (Gardiner 1935, 56, 58), er war außerdem mit Capart diesbezüglich in schriftlichem Kontakt und hatte eine eigene hieroglyphische Umschrift angefertigt (van de Walle 1967, 13–14; Gardiner Notebook 50.58). Gardiner nennt den Text „corrupt“, d.h. fehlerhaft (Gardiner 1935, 56).
Eine Neuedition mit Beschreibung, Kommentierung, hieroglyphischer Transliteration, schwarz-weiß Photographie und einer zeilenweisen Übersetzung (absichtlich keine fortlaufende Übersetzung) des Ostrakons legte 1967 van de Walle vor, die bereits von Capart geplant war, jedoch durch dessen Tod verhindert wurde (van de Walle 1967, 13–14). Übersetzungen der Sprüche 1–3 (Spruch 4 ist fast identisch mit einer Zeile aus Spruch 3) finden sich bei Borghouts 1978, 72–73 (Englisch), Ritner 1998, 1033 (Englisch) und Rouffet 2019, 1021–1022 (Französisch). Katharina Stegbauer hat im Rahmen des Projekts DigitalHeka (2006–2008) eine deutsche Übersetzung angefertigt, welche seitdem in den Thesaurus Linguae Aegyptiae integriert wurde.

Editionen

- Speleers 1923: L. Speleers, Recueil des inscriptions égyptiennes des Musées Royaux du Cinquantenaire à Bruxelles (Bruxelles 1923), 57, 148, 207b, 208a.

- van de Walle 1967: B. van de Walle, L’ostracon E 3209 des Musées Royaux d’Art et d’Histoire mentionnant la déesse scorpion Ta-Bithet, in: Chronique d’Égypte 42/83, 1967, 13–29.

Literatur zu den Metadaten

- Bierbrier 2012: M. L. Bierbrier, Who was Who in Egyptology. Fourth Revised Edition (London 2012).

- Borghouts 1978: J. F. Borghouts, Ancient Egyptian magical texts: translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 72–73 (Nr. 97–99).

- Gardiner 1935: A. H. Gardiner, Hieratic Papyri in the British Museum. Third Series. Chester Beatty Gift (London 1935).

- Ritner 1998: R. K. Ritner, The Wives of Horus and the Philinna Papyrus (PGM XX), in: W. Clarysse – A. Schoors – H. Willems (Hrsg.), Egyptian Religion. The Last Thousand Years. Part II. Studies Dedicated to the Memory of Jan Quaegebeur, Orientalia Lovaniensia Analecta 85 (Leuven 1998), 1027–1041, hier: 1033.

- Rouffet 2019: F. Rouffet, Recherches sur la déesse Tabitchet, in: M. Brose et al. (Hrsg.), En détail – Philologie und Archäologie im Diskurs. Festschrift für Hans-Werner Fischer-Elfert 2, Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde. Beihefte 72 (2) (Berlin/Boston 2019), 1021–1039, hier: 1021–1022, 1028, 1032.

 Eine vollständige Bibliographie finden Sie hier.

Online-Ressourcen

- A. De Caluwe 1999: http://www.globalegyptianmuseum.org/record.aspx?id=497 (25.01.2022).

- Gardiner Notebook 50.58: http://www.griffith.ox.ac.uk/gri/4higaros.html (25.01.2022).

Autoren
Dr. Katharina Stegbauer
Mitwirkende
Dr. Peter Dils
Autoren (Metadaten)
Dr. Peter Dils

Übersetzung und Kommentar

Spruch 1

[1] Sei gegrüßt Horus, mit dem Blut der Tabitjet, [seit]1 Horus sie entjungferte auf einem Bett aus Ebenholz!
Bit, die Herrin der Uräen, die Tochter des Re, ich werde als Held (?) gegen sie vorgehen (?).2
Ein Falke ist rechts, ein anderer links von ihr,3 aber ich werde entkommen(?)!4
Horus, sei gegrüßt!

1 ḏr: Ergänzt nach der Heilstatue von Ramses III. (Z. 3-4) und nach pChester Beatty VII, Z. Rto 4.3.
2 Vgl. die Übersetzungen von Borghouts 1978, 72 („I will recite (?) against her as a hero (〈n〉(?)ḫt)“, Ritner 1998, 1033 („I shall enchant against her in victory“) und Rouffet 2019, 1021 („je conjurerai contre elle/plus qu’elle par la force“).
3 Laut Ritner 1998, 1033, Anm. 41 wird der Falkenschmuck auf den Schultern des Horus beschrieben, so dass beim Sieg des Horus über Tabitjet ein Falke links und rechts über ihr steht.
4 Vgl. die Übersetzungen von Borghouts 1978, 72 („however, I will escape“), von Ritner 1998, 1033 („aside from me. Go forth“) und Rouffet 2019, 1021 („Puisses-tu ouvrir mon visage, (toi) qui est sorti“).

Spruch 2

Weiter:
Blut der ersten Geburt der Kobra!
Komm zu mir, komm zu mir, Bitjet, [5] Horusfrau!
Komm, ich bin Horus!

Spruch 3

Weiter:
Mit Bier trat ich ein, ((mit)) Bier kam 〈ich〉 heraus!
Falle [...] mit frischem Blut!1
Ergreife, was dir der Gott weiht, Geb!2
Ich bin Horus, der Sohn einer Kuh, also eines Stieres,3 also von Kühen.
Kommt doch, ihr schmerzenden Wasser, die im Leib des NN., geboren von NN., sind, wie sie 〈aus〉 Bitjet,4 der Horusfrau herauskamen, der Tochter des Sepa, der Tochter des Osiris, als sie sich dem Kind des Geb anvertraute (?), während Re jung (?) war.
Der Heiler heilt die Glieder des NN., geboren von NN., [10] während Re ihm Zeuge ist, um ihn (d.h. den Patienten) besser sein zu lassen.5
〈Besser〉 ist er, 〈als〉 er war in der Nacht des Gebärens seiner Mutter, o Tochter! (?)5
Ich bin Horus, der Arzt, der einen Gott besänftigen kann!6

1 van de Walle 1967, 20, Anm. 3 verweist auf Gardiner, der sich fragt, ob ḫr jr.tj=j „my eyes fall on ...“ gelesen werden könnte. Dies wird gefolgt von Ritner 1998, 1033: „My eyes (?) fell upon fresh blood“. Borghouts 1978, 72 hat: „Fall down, break out (??) through the fresh blood!“ Bei Rouffet 2019, 1022 steht „[...] tombé (?) à cause du/sur le sang frais.“
2 Borghouts 1978, 108, Anm. 259 versteht dies so, dass der Gott (= Horus) das vaginale Blut der Tabitschet auf den Erdboden (= Geb) tropfen lässt (ebenso Ritner 1998, 1033, Anm. 44).
3 rʾ mdw.t n(,j) kꜣ oder rʾ mdwi̯.t (j)n kꜣ: van de Walle 1967, 21 übersetzt „cela signifie (?) du taureau, cela signifie (?) de la vache“, wörtl. „la bouche qui parle“. Ähnlich Rouffet 2019, 1022: „c'est-à-dire du taureau et de la vache.“ Borghouts 1978, 72 hat „an utterance (r) of a bull an utterance of a cow!“ als Ausruf. Ritner 1998, 1033 „with a spell of words for a bull (= male) and a spell of words for vulvas (= females)“.
4 mj pri̯{=n}〈.n〉=s〈n〉 〈⸮m?〉 Bjṯ.t: van de Walle 1967, 22 schlägt eine Emendation zu pri̯.n=sn m vor „comme elles (?) sont sorties de (?) Bı͗ṯ.t, l’épouse d’Horus. C’est sa fille (?), la fille d’Osiris, qui est occupé à (?) enfanter Geb (et) Re …“. Borghouts 1978, 73 hat „as they (?) came out 〈for (?)〉 Bı͗ṯ.t, the wife of Horus, the daughter of Spw, the daughter of Osiris, who stood upright on something Geb had brought forth (ms Gb), Reꜥ being aloof (ḥr-ḫw=f?)!“
Ritner 1998, 1033 lässt den Satz aus. Rouffet 2019, 1022 hat „comme sont sorties Bitchet l’épouse d’Horus et Satespou, la fille d’Osiris qui est en train d’accoucher de Geb, Rê étant ...?...“.
5 Schwierige Sätze, die auch anders emendiert werden können. Vgl. van de Walle 1967, 22-23: „Le Guérisseur (?) guérit les membres d’un(e) tel(le) né(e) d’une telle. Ré porte témoignage à son sujet (?), pour faire en sorte (?) qu’il se trouve (encore) mieux qu’il n’était, la nuit où sa mère enfanta une fille (?)“.
Borghouts 1978, 73: „Restaurer (snfrw) of Horus (Ḥrw), restore the body of NN born of NN – Reꜥ is a witness to it – to make him better than he was, 〈as in〉 the night when his mother bore a child!“
Rouffet 2019, 1022: „Le guérisseur a guéri le corps d’Unetelle née d’Unetelle (et) Rê a témoigné pour lui afin qu’il puisse être en meilleure (santé qu’)il (ne l’)était la nuit où sa mère a enfanté une fille.“
6 jnk Ḥr.w zwn.w ḥtp nṯr: gleicher Satz mehrfach in pChester Beatty VII, Rto 1.7-2.4; ebenso auf der Heilstatue des Ramses III, Z. 11.

Spruch 4

Weiter:
Kommt heraus, ihr schmerzenden Wasser, die im Körper des NN., geboren von NN., sind!