mr „Kanal“
mr: Wörtlich: „Kanal; Teich/See“, aber auch „Uferrand“. L. Stern, Glossarium, in: G. Ebers (Hrsg.), Papyros Ebers. Das hermetische Buch über die Arzeneimittel der alten Ägypter in hieratischer Schrift. Vol. 2 (Leipzig 1875), 1–63, hier 7a interpretiert das Wort als Kurzschreibung für jtr.w, wörtl.: „Fluss“, das hier als Synonym für me (a.a.O., 20b), d.h. gs: „Seite“ verwendet würde; dazu hat ihn vielleicht Eb 189c verleitet, wo auf die mr.wj, die „beiden Kanäle“, die rechte und linke „Seite“ (gs) folgen. Als Bedeutung gibt er lat. „latus“. (Ob man ihm eine Assoziationskette „Fluss“ > „breit“ (lat. „latus“) > „Seite“ (lat. „latus“) unterstellen kann?) Dies scheint sich als Bedeutung etabliert zu haben, so etwa bei H.L.E. Lüring, Die über die medicinischen Kenntnisse der alten Ägypter berichtenden Papyri verglichen mit den medicinischen Schriften griechischer und römischer Autoren (Leipzig 1888), 22, B. Ebbell, The Papyrus Ebers. The Greatest Egyptian Medical Document (Copenhagen, London 1937), 47, T. Bardinet, Les papyrus médicaux de l’Égypte pharaonique, Penser le médecine (Paris 1995), 276, W. Westendorf, Handbuch der altägyptischen Medizin, Handbuch der Orientalistik I.36 (Leiden 1999), 578. Vgl. auch H. von Deines – W. Westendorf, Wörterbuch der medizinischen Texte. Erste Hälfte (ꜣ–r), Grundriß der Medizin der alten Ägypter VII.1 (Berlin 1961), 382, das diese Bedeutung ebenfalls für den dualischen Gebrauch in Eb 188c annimmt, für die singularische Verwendungsweise aber eher an den Verdauungskanal denkt.
G. Lefebvre, Essai sur la médecine égyptienne de l’époque pharaonique (Paris 1956), 24 übersetzt den Dual in Eb 188c mit „deux courants“ und vermutet a.a.O., Anm. 1: „Expression imagée pour indiquer que le malade est flévreux.“ Den singularischen Beleg in Eb 198 übersetzt er dagegen ebd., 127 mit „le canal ( = le cardia?)“. Ausgehend von der Bedeutung „Kanal“, erwägt J.H. Walker, Studies in Ancient Egyptian Anatomical Terminology, Australian Centre for Egyptology. Studies 4 (Warminster 1996), 136, in mr eher den Hohlraum zu sehen, der sich am Rücken eines liegenden Menschen neben der Wirbelsäule abzeichne (d.h. wohl: zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt?). F. Van Elst, Rezension zu Radestock, Susanne 2015. Prinzipien der ägyptischen Medizin: medizinische Lehrtexte der Papyri Ebers und Smith. Eine wissenschaftstheoretische Annäherung. Wahrnehmungen und Spuren Altägyptens 4. Würzburg: Ergon-Verlag, in: Chronique d’Égypte 91 (181), 2016, 99–104, hier 102 schlägt dagegen vor, die Bezeichnung des Magens als rʾ-jb als Indikator dafür zu sehen, dass die Ägypter den Magen-Darm-Trakt und den Blutkreislauf als physisch tatsächlich miteinander verbunden auffassten. Der mr-Kanal sei vielleicht genau diese Verbindung. Prinzipiell scheint gut dazu zu passen, dass die mr-Kanäle laut Eb 188c m ẖ.t lokalisiert werden, was der Basisbedeutung der Präposition nach im Körper und nicht am Körper ist. Andererseits liefert Van Elst noch keinen Vorschlag für den Dual von Eb 188c, der dann eben mehr als nur eine Verbindung andeuten würden. Außerdem müsste überdacht werden, wie der Arzt die beiden Kanäle dann gmi̯: „(vor)finden“ kann; sie sind jedenfalls dann nicht mehr direkt palpierbar, sondern ihr Zustand kann nur indirekt (eben vielleicht durch die unterschiedliche Wärme?) festgestellt werden.
J. Russel, et al., An Investigation of the Pharmacological Applications Used for the Ancient Egyptian Systemic Model ‘ra-ib’ Compared with Modern Traditional Chinese Medicine, in: Journal of Ethnopharmacology 265, 2021, 113115.1–113115.10, hier [Seite 5], vermuten in der in Eb 198 erwähnten Verstopfung oder Zusetzung des „Kanals“ eine Metapher für die Verhindung von Durchflüssen.
Dr. Lutz Popko