ꜥnḫ „lebhaft (?)“
In den medizinischen Texten kommt das Verb ꜥnḫ mehrfach als Attribut bei Drogennamen vor, so bei:
– jwf n 𓃒 ꜥnḫ (Eb 86, H 227: das Rind ist in diesen Fällen, wie in den medizinischen Texten üblich, logographisch geschrieben; es könnte demzufolge statt der Gattungsbezeichnung jḥ: „Rind“ auch das homographe Wort jwꜣ: „Langhornrind“ oder kꜣ: „Stier“ gemeint sein, Letzteres etwa T. Bardinet, Les papyrus médicaux de l’Égypte pharaonique, Penser le médecine (Paris 1995), 262) neben kürzerem jwf ꜥnḫ (Eb 664, Bln 155) und jwf ḏdꜣ ꜥnḫ (Bln 153);
– bnr ꜥnḫ (Eb 563);
– bd.t ꜥnḫ.t (Ram III B 8; zur Schreibung s. H. Grapow – H. von Deines, Wörterbuch der ägyptischen Drogennamen, Grundriß der Medizin der alten Ägypter VI (Berlin 1959), 187, Anm. 1);
– sw.t ꜥnḫ.t (Eb 329 = Eb 331);
– gj.t ꜥnḫ.t (Eb 664) und
– tpꜣ.w ꜥnḫ.w (Eb 692, Eb 670, Eb 692).
Es ist also ein Attribut von Fleisch (jwf) als auch von Pflanzen (bd.t: „Emmer“, sw.t-Binse und gj.t-Pflanze) und Pflanzenteilen bzw. -produkten (bnr: „Datteln“, tpꜣ.w-Teile). Im Allgemeinen wird hierin ein Ausdruck der Frische vermutet, s. pars pro toto H. von Deines – W. Westendorf, Wörterbuch der medizinischen Texte. Erste Hälfte (ꜣ-r), Grundriß der Medizin der alten Ägypter VII.1 (Berlin 1961), 144 und speziell für das Fleisch auch H. Grapow – H. von Deines, Wörterbuch der ägyptischen Drogennamen, Grundriß der Medizin der alten Ägypter VI (Berlin 1959), 16–17, W. Westendorf, Handbuch der altägyptischen Medizin, Handbuch der Orientalistik I.36 (Leiden 1999), 561 und Bardinet, a.a.O., 262. Das ist aber keineswegs sicher, weil der Zustand der Frische meist mithilfe von wꜣḏ ausgedrückt wird, so bei jwf (vgl. die zahlreichen Belege in DrogWb, 14–15: 19 Belege [ohne Parallelrezepte]) und bei bnr (DrogWb, 173–174: 23 Belege [ohne Parallrezepte]). Es muss also einen davon zu unterscheidenden Zustand bezeichnen. Wb 1, 196.4–5 vermutet für jwf ꜥnḫ „d.h. soeben frisch geschlachtet?“ und für bnr ꜥnḫ parallel dazu „d.h. frisch gepflückte?“ Damit würde ꜥnḫ sozusagen abseits des breiten Terminus wꜣḏ den höchsten Frischegrad anzeigen.
Ein Spezialfall wäre hierbei noch die Droge jwf n 𓃒𓏤 ꜥnḫ, denn hier suggeriert die Wortstellung zunächst, dass Fleisch von lebenden Rindern gemeint ist. Dementsprechend vermutet DZA 21.741.390 noch radikaler als später das Wb: „Fl[eisch] (von einem) lebenden (Tier)?“. (NB: Bei einer solchen Vermutung wäre u.U. die Diskussion von A. von Lieven, Das Göttliche in der Natur erkennen. Tiere, Pflanzen und Phänomene der unbelebten Natur als Manifestation des Göttlichen; mit einer Edition der Baumliste P. Berlin 29027, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 131, 2004, 156–172, hier 168, Anm. 46 zu berücksichtigen, wo sie anmerkt, dass beim Mundöffnungsritual, zumindest nach Ausweis des Totenbuches des Hunefer, einem lebenden Kalb ein Schenkel abgetrennt wurde. Allerdings bedürfte diese Szene einer näheren Untersuchung: Neben dem Schenkel wird auch das Herz dargebracht des Tieres, was de facto darauf hinausläuft, dass das Tier geschlachtet wurde. Die Szene entspricht den Szenen 23–25 resp. 43–45 des Mundöffnungsrituals [nach der Zählung Ottos]. Es bliebe zu prüfen, ob die Darstellung auf dem Papyrus des Hunefer Parallelen findet; in anderen Versionen dieser Szene ist das Rind liegend abgebildet, und ob das Abschneiden des Schenkels am noch lebenden oder schon toten Tier geschah, lässt sich aus diesen Darstellungen und den Beischriften nicht eruieren.) Allerdings scheinen die beiden Belege von bloßem jwf ꜥnḫ, also ohne n 𓃒𓏤, dafür zu sprechen, dass sich ꜥnḫ auch in jwf n 𓃒 ꜥnḫ auf jwf bezieht; die Nachstellung des ꜥnḫ hinter das Nomen rectum des indirekten Genitivs erklärt W. Westendorf, Grammatik der medizinischen Texte, Grundriß der Medizin der alten Ägypter VIII (Berlin 1962), § 165.aa.1 mit Anm. 7 damit, dass ꜥnḫ kein attributives Partizip, sondern ein Stativ ist. Für diese Frage ist aber auch zu berücksichtigen, dass jwf ꜥnḫ nach § 90b des sogenannten Schlangenpapyrus eine Bezeichnung der jṯrwt- (oder jṯrwj-)Pflanze ist, die Täckholm als Kapernstrauch (genauer: Capparis decidua) identifiziert, s. dazu S. Sauneron, Un traité égyptien d’ophiologie. Papyrus du Brooklyn Museum No. 47.218.48 et .85, Bibliothèque générale 11 (Le Caire 1989), 120–121. Es besteht also die nicht völlig auszuschließende Möglichkeit, dass jwf ꜥnḫ und jwf n 𓃒 ꜥnḫ doch zwei verschiedene Drogen bezeichnet, die natürlich dann auch trotz äußerlicher Ähnlichkeit syntaktisch unterschiedlich konstruiert sein könnten.
Würde man ꜥnḫ wörtlich als „lebendig“ verstehen, wie es DZA im Fall des Fleisches tut, wäre ferner zu hinterfragen, ob aus ägyptischer Perspektive Pflanzen der Kategorie „Leben“ zugeordnet wurden. Zumindest in den Texten der Amarnazeit ist das der Fall (vgl. Wb 1, 195.2); auch der demotische pCarlsberg 302 (8), der ein Fragment einer späten Kosmologie ist, führt in Zeile 2,11-12 Pflanzen (sm.w) nach einer Aufzählung von „Göttern, [Menschen], sšm.w-Tieren (das sind übernatürliche Tiere, zu denen u.a. die Greifen zählen), ꜥw.t(?)-Tieren, Fischen, Vögeln, Schlangen“ als weitere Kategorie von Wesen auf, die „leben“ und „sterben“ können, s. M. Smith, The Carlsberg Papyri 5. On the Primaeval Ocean, CNI Publications 26 (Kopenhagen 2002), 105–106. Andererseits sei auf die monotheistischen Hymnen des pChester Beatty IV Recto hingewiesen, wo in Zeile 10,6 in einer Auflistung von Entitäten, die dem Schöpfergott zujubeln (u.ä.), die Menschen in ꜥnḫ.w und jm.jw dwꜣ.t aufgeteilt sind: „Lebende“ und „in der Unterwelt befindliche, Tote“. In vergleichbaren Auflistungen an Entitäten steht an dieser Stelle rmṯ.w: „Menschen“. Durch die Aufteilung dieser Kategorie in pChester Beatty IV rto. 10,6 wird den Menschen allerdings „une touche plus universelle, voire plus neutre“ gegeben (D. Meeks, La hiérarchie des êtres vivants selon la conception êgyptienne, in: A. Gasse – F. Servajean – C. Thiers (Hrsg.), Et in Ægypto et ad Ægyptum. Recueil d’études dédiées à Jean-Claude Grenier, Bd. 3, Cahiers „Égypte Nilotique et Méditerranéenne“ 5 (Montpellier 2012), 517–546, hier 520). Hierdurch gelingt dem Text eine Erweiterung des göttlichen Einflussbereiches in das Jenseits hinein, wie Meeks schreibt; allerdings wird dadurch ꜥnḫ gewissermaßen zu einer spezifisch menschlichen Eigenschaft, die in diesem Textabschnitt selbst Tiere ausschließt.
Neben dem Wb-Vorschlag „frisch geschlachtet/gepflückt“, dem die Übersetzungen der medizinischen Texte – meist verkürzt als „frisch“ u.ä. – i.d.R. folgen, lassen sich aber auch andere Optionen denken. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Wort ꜥnḫ in diesen Drogennamen zum Ausdruck einer anderen Qualität dient, vergleichbar zu anderen Kategorien der belebten Natur, die ebenfalls auf – aus moderner Perspektive – unbelebte Dinge angewendet wurden, wie bspw. die Unterscheidung zwischen „männlich“ (man denke an den ṯꜣ.y n msdm.t: „männlichen Bleiglanz“) und „weiblich“ (vgl. das ⲃⲉⲛⲓⲡⲉ ⲛⲥϩⲓⲙⲉ: „weibliche Eisen“). (Wenn daher die sw.t-Binse in Eb 329 = 331 „lebendig“ und in Eb 800 ḥm.t: „weiblich“ sein kann, bedeutet daher nicht, dass die Alten Ägypter ihr den Charakter des Lebendigen sowie eine Zweihäusigkeit zugeschrieben hätten, bzw. dass sie überhaupt das moderne Konzept von der Ein- und Zweihäusigkeit bei Pflanzen gekannt hätten.)
Als Alternative zum Wb-Vorschlag wäre auch denkbar, dass ꜥnḫ sich auf das äußere Erscheinungsbild bezieht: Etymologisch scheint die Wurzel ꜥnḫ „binden“ zu bedeuten; das Verb ꜥnẖ: „leben“ meint daher vielleicht ursprünglich „(in die Gesellschaft) eingebunden sein“. Andere Wörter derselben Wurzel zeigen deren Bedeutung noch deutlicher, wie ꜥnḫ, das Gebinde, der Blumenstrauß, oder sqr-ꜥnḫ, der „Geschlagene und Gefesselte“, d.h. der Kriegsgefangene, s. W. Schenkel, Die hieroglyphische Schriftlehre und die Realität der hieroglyphischen Graphien, Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse 138.5 (Stuttgart, Leipzig 2003), 22. Eventuell bezeichnet auch ꜥnḫ als Attribut von Fleisch, Pflanzen und Pflanzenteilen also ein irgendwie besonders gebundenes, verschlungenes Aussehen. Auch eine besondere Färbung könnte erwogen werden. Hier sei an das deutsche Adjektiv „lebhaft“ erinnert, das bei Farben und Mustern eine besonders kräftige oder ins Auge springende Nuance bezeichnen kann.
Abschließend ist auch das Metall bqs-ꜥnḫ (< bjꜣ-Qjs mit späteren Zusatz ꜥnḫ) in die Diskussion einzubeziehen; s. dazu J.R. Harris, Lexicographical Studies in Ancient Egyptian Minerals, Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Orientforschung. Veröffentlichungen 54 (Berlin 1961), 168–170: Devéria (T. Devéria, Le fer et l’aimant. Leur nom et leur usage dans l’ancienne Égypte, in: Mélanges d’archéologie égyptienne et assyrienne 1, 1872, 2–10) hatte das Vorkommen von Eisen und Magnetit in Ägypten diskutiert, ausgehend von Plutarch, De Iside et Osiride 62, wonach die Knochen des Horus aus σιδηρῖτις λίθος: „Eisen, Magnetit“ und diejenigen des Seth aus σίδηρος: „Eisen“ wären. Champollion und anderen folgend, sieht er in bjꜣ das Wort für Eisen; in bjꜣ n p.t: „bjꜣ des Himmels, erwägt er neben Birchs Vorschlag Meteoriteneisen auch eine Übersetzung als Magneteisenerz (S. 9). Hauptsächlich weil das Logogramm für Qjs als „élément principal“ in einem der Namen von Abu Simbel vorkäme, vermutet er in dem Kompositum bjꜣ-Qjs die ägyptische Entsprechung für den λίθος Αἰθιοπικὸς: „äthiopischen Stein“, den Diodor I, 91 bei der Beschreibung der Mumifizierung erwähnt, und sieht darin eine eisenhaltige Substanz, „comme la sidéritine ou fer arseniaté dont l’éclat est résineux; la sidérose ou fer spathique; l’hématite our sanguine“ (S. 10). Bezüglich des „äthiopischen Steins“ überlegt er ferner (S. 3): „Je ne sais si, par pierre éthiopienne, on pourrait entendre l’ethiops martial des anciens alchimistes, le deutoxyde de fer noir des chimistes modernes, ou quelque autre substance ferrugineuse“. B. Ebbell, The Papyrus Ebers. The Greatest Egyptian Medical Document (Copenhagen, London 1937), 132 schlägt (basierend of Devéria?) für bjꜣ Qjs die Übersetzung „magnetite“ vor. An Devérias Idee anknüpfend, weist Harris, a.a.O. darauf hin, dass laut Plinius Magnetit aus Nubien käme; und auch bqs-ꜥnḫ wird als nubisches Produkt genannt und ferner als Mineral oder Halbedelstein geführt. Diese Eigenschaften würden, so Harris, zu Magnetit passen, und das Attribut ꜥnḫ könnte sich auf die „apparently live nature of the mineral in attracting iron“ beziehen (vergleichbar vielleicht zu griech. μάγνης ζῶν = latein. ferrum vivum). Andererseits, so Harris weiter, befände sich unter den von Petrie genannten Amuletten aus Dendera, die aus (b)qs-ꜥnḫ seien, keines aus Magnetit, und in demotischen magischen Papyri würde das griechische μάγνης als mꜥknjs u.ä. transkribiert und sei eine von (b)qs-ꜥnḫ verschiedene Substanz. Aufgrund dessen unterlässt er eine konkrete Identifizierung von bqs-ꜥnḫ und legt sich lediglich darauf fest, dass es „an iron ore of attractive appearance“ sei, „regarded as a semi-precious stone in the Greek period“.
Dr. Lutz Popko