Papyrus Vatikan Inv. 38573
Übersetzung und Kommentar
x+1. Szene
[1,1] [...] Amme.Da [... Isis]1, indem sie zu ⟨ihrem⟩ Sohn Horus sprach:
„Mögest du eilen [...]2“
[Da] sprach Horus:
„[Du sagst zu mir:] ‚Geh für mich, beschwöre deinen Onkel‘, [… weil]3 er zu mir gesagt hat, als er stark war:
‚Du [...]‘“
[Da] sprach Isis zu ihrem Sohn Horus:
„Ist es denn nicht dein Onkel, der [...], indem er erschrocken ist?4
Dieser Feind, er ist nicht [...], [er verlässt] sein Haus, wobei er im Himmel herumschreit, [1,5] [während er] auf der Erde umhergeht, wobei seine [lauten] Schreie von weitem gehört werden, indem sie draußen (um Hilfe) rufen.“
1 Die Spuren nach ꜥḥꜥ.n sind auf dem Photos bei Gasse 1993 nicht mehr zu lesen. Mit großer Wahrscheinlichkeit muss der Gottesname Isis ergänzt werden, welches Verbum davor stand, muss aber offen bleiben.
2 Am rechten Rand der ersten Seite des Papyrus fehlen ca. 2–3 cm (vgl. Erman 1893) Der Platz, den Suys 1934 für Ergänzungen einräumt, ist deshalb i.d.R. zu knapp berechnet. Die Rede muss daher um einiges länger gewesen sein, als man aufgrund der Publikation Suys’ vermutet. Inhaltlich enthält sie die Aufforderung Isis' an Horus, dem gebissenen Seth zu Hilfe zu eilen.
3 Auch am Anfang der Z. 3 fehlt ein ganzes Stück, vielleicht die einstweilige Weigerung Horus’, der Aufforderung nachzukommen, die dann durch ḏd=f n=j begründet worden wäre. (Vgl. a. J. F. Borghouts, The Magical Texts of Papyrus Leiden I 348 (Leiden 1971), 17).
4 Die Konstruktion jsṯ bn drückt nach J. Černý – S. Groll – C. Eyre, A Late Egyptian Grammar, Studia Pohl 4 (Rom 1975), § 61,5, eine starke Verwunderung auf Seiten des Fragestellers aus. Isis hakt also nach und erklärt Horus wohl, dass sein Onkel („dieser Feind“) im Moment nicht gefärlich ist, da er aufgrund der Schmerzen herumschreit und Hilfe braucht.
x+2. Szene
[Als aber] die Götter und Göttinnen [kamen],1 war ein jeder von ihnen unter [...], [als] er das Gift diagnostizierte2, während es stark und dauerhaft war, als er es zerschlagen (wollte) auf der Oberseite des B[isses], als er es vertreiben (wollte) wie Rotz der Nase, [als er] es zerstreuen (wollte) wie das Zerstreuen von Erbrochenem durch das Verfertigen eines kleinen Götterbildes aus Blut, [...] über seinem Herzen.1 Die Ergänzung der Lakune durch Suys 1934 ḥr ḥḥ „beim Suchen“ ist durch das bei Gasse 1993 abgebildete Fragment obsolet, da dort deutlich ẖr zu lesen ist. Vermutlich ist eine negative Emotion (Trauer, Angst o.ä.) zu ergänzen. Meine Rekonstruktion am Satzanfang stützt sich auf die, in den Sprüchen des pBM EA 9997 des Öfteren vorkommende, Konstruktion jwj jrf, wobei die Schwanzspitze des von jrf noch zu sehen ist. Erman 1893 ergänzt an dieser Stelle nꜣy=f nṯr.w.
2 gmj „finden“ wird m.E. hier im med. Sinne gebraucht.
x+3. Szene
Die Götter und Göttinnen schrien [zu Horus], damit sein Gesicht ⟨auf⟩ seine Stärke1 ⟨gerichtet⟩ wäre, denn er sollte [1,10] [...] das Gift töten, damit er Seth, den Sohn der Nut, belebe.Sein Auge ⟨ruhte auf⟩ allen Ländern, die unter seinem (= Horus‘) Glanz waren, indem er den stärkte [...], sprechend:
Steh auf, Seth, Geliebter des Re, stelle dich auf [deinen] Platz [in der Barke] des Re, damit er erfreut ist über den Triumph, wenn [2,1] der Feind ⟨deines⟩ Vaters Re niedergeschlagen wird im Verlauf eines jeden Tages.
1 Oder ist hier, trotz des Determinativs, nḫt „Starker/Riese“ zu lesen, was auf Seth bezogen werden könnte? Zu Seth als Kraftprotz und evtl. riesenhaften Wesen vgl. G. Vittmann, „Riesen“ und riesenhafte Wesen in der Vorstellung der Ägypter, Veröffentlichungen der Institute für Afrikanistik und Ägyptologie der Universität Wien 13 (Wien 1995), 28–30.
x+4. Szene: Gliedervergottung
⸢Es gibt kein Glied an ihm⸣ [ohne Gott],1 von seinem Kopf bis zu seinen Sohlen:Du sollst keinen Halt finden in seinem Scheitel, denn Thot ist gegen dich, der Herr seines Scheitels!
Es gibt keinen Ruheplatz, steige zur Erde herab, o Gift!
Ich bin es, der dich beschwört, der dich schmäht, der dich vernichtet, der dich bespuckt, der dich entfernt aus allen Gliedern des NN, geboren von NN.
1 Die Zeichenreste am Anfang des Verses lassen sich m.E. gut zu der in Gliedervergottungen häufig belegten Formel ergänzen. Vgl. ꜥ.t in 2,3, oder das Fleischdeterminativ am Ende der Zeile (2,1).
1. Parenthese
O Gift, sei schwach, denn du kannst nicht siegreich sein, sei blind, denn du kannst nicht sehen, sei niedergeworfen, denn du kannst das Gesicht nicht erheben, geh in die Irre, denn dein Blickfeld wird nicht geöffnet sein, [2,5] sei benommen, du kannst nicht stechen!Sei vertrieben, denn [du] kannst deinen Weg nicht [finden]!
Sei liquidiert, denn du kannst nicht fest sein!
Stirb, denn du kannst nicht leben!
Unter1 das Messer bist du geworfen, o Gift, durch das Sprechen [seitens] Thots, des Ältesten, des Sohns des Re, des Abkömmlings dessen, dessen Name verborgen ist, ⟨durch⟩ den Spruch des Herrn seines Scheitels!
1 Oder bedeutet hier ẖr „aus“? Dann wäre „Aus der Wunde bist du geworfen, o Gift“ eine weitere, sinnvolle Übersetzung.
Fortsetzung der Gliedervergottung
Du sollst keinen Halt finden in seiner Stirn, denn [Weret]-Hekau ist gegen dich, die Herrin seiner Stirn!Du sollst keinen Halt finden in seinen Augen, denn Haroëris ist gegen dich, der Herr seiner Augen, der Herr von On, der den Norden niederstreckt, der Truppenoberst der Nut, der die Wege der Neunheit öffnete, als Re geblendet war, ohne dass er sehen konnte, der auf ihm (dem Weg?)1 schritt, der sein Gesicht verhüllte vor den Verwesten (= der den Verwesten gnädig war ?), [2,10] als die vier Balsamierer des [Re] niedergeschlagen wurden, als sie Menschen waren.
1 Die Verse ab thm.w sind mir inhaltlich nicht klar.
2. Parenthese
Halt an, o Gift, damit ich [3,1] deinen Namen entdecken kann gemäß deiner Art!Komm doch nach drauß[en in]folge meines Spruchs, o Gift!
Komm aus seiner Rechten, komm aus seiner Linken!
Komm als Erbrochenes, komm als Schweiß!
Komm als Gesicht irgendwelcher Vögel, in die du eingetreten bist!
Eile doch, um die Abendbarke auszusenden, um die Morgenbarke absegeln zu lassen, zu den Göttern und Göttinnen, deren Herzen zaudern.1
1 Eine ähnliche Formel kommt auf dem Socle Behague vor (A. Klasens, A Magical Statue Base (Socle Behague) in the Museum of Antiquities at Leiden, Oudheidkundige Mededelingen vit het Rijksmuseum van Oudheden 33 (Leiden 1952), 97, f 37). Dort handelt es sich aber um eine Rede des Thot an Isis: Nachdem er die Ammen von Chemmis angewiesen hat, auf das Horuskind acht zu geben, verabschiedet er sich von Isis, um Re-Horachte den Heilungserfolg zu verkünden (vgl. A. Klasens, A Magical Statue Base (Socle Behague) in the Museum of Antiquities at Leiden, Oudheidkundige Mededelingen vit het Rijksmuseum van Oudheden 33 (Leiden 1952), 58).
Eine genaue Parallele findet sich dagegen im pGeneve MAH 15274, rt. 7,8 (A. Massart, The Egyptian Geneva Papyrus MAH 15274, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 15, 1957, 180). Da ich das von Massart angesetzte sjn „warten“ (Wb 4, 38,4) für unsinnig halte, lege ich meiner Übersetzung sjn „eilen“ (Wb 4, 38,12) zugrunde. Statt jnj „zaudern“ wie pGeneve MAH 15274, rt. 7,8 schreibt der vorliegende Papyrus jnn „umwenden“, was hier m.E. semantische Schwierigkeiten aufwirft, es sei denn, die Erkenntnis von W. Westendorf, Eilen und Warten, in: Göttinger Miszellen 46, 1981, 27–33, der zeigt, dass sjn „warten“ und sjn „eilen“ Bedeutungsvarianten ein und desselben Wortes sind, ist auch auf jn und jnn anwendbar.
Fortsetzung der Gliedervergottung
Du sollst keinen Halt finden in seinen Lippen, denn die große Seschat ist gegen dich, die Herrin seiner Lippen, die große Götin, die die [Fei]nde der Götter und der Menschen aufspießt.Du sollst keinen Halt finden in seinem Gebiss.
Wenn sein Herz freundlich ist1, [3,5] ist es Horus, wenn es schmerzt, ist es Seth, Ptah-Tatenen, der ⟨mit⟩ seine(n) Amuletten errettet, die zwei gewaltvollen Götter, die ihren Vater Res-Udja bestatten.
Du sollst keinen Halt finden in seiner Schläfe, denn die Morgenbarke, [...], ist gegen dich, die Herrin seiner Schläfe!
Du sollst keinen Halt finden in seiner Zunge, denn Nefertem ist gegen dich, der Herr seiner Zunge!
Du sollst keinen Halt finden in seinem Kinn, denn Min, hoch an Federn, ist gegen dich, der Herr seines Kinns, der große Gott, der sich seiner Schönheit rühmt, der Herrscher der Sterne2.
Du sollst keinen Halt finden in seiner Kehle, denn die oberägyptische Meret ist gegen dich, die Herrin seiner Kehle, die heilige Sängerin an jedem Tag, die [das Herz] eines jeden Gottes [zufriedenstellt]3.
Du sollst keinen Halt finden in seinem Nacken, denn Uto ist gegen dich, die Herrin seines Nackens, die Herrin der Stele, die inmitten der beiden Horizonte ist.
[Du] sollst keinen [Halt finden] in [3,10] seinen Gliedmaßen, denn Nut, die die Götter geboren hat, ist gegen dich, die Herrin seiner Gliedmaßen.
Du sollst [keinen] Halt finden in seinen Schultern, denn die Schepesut-Göttinnen, die sich befinden in [... sind gegen dich], [4,1] die Herrinnen seiner Schultern.
Du sollst keinen Halt finden in seinen Armen, der Rechte ist Horus, der Linke ist Seth, die zwei gewalt[vollen] Götter die ⟨ihren⟩ Vater Res-Udja bestatten.
Du sollst keinen Halt finden in seinen Fingern, denn Ptah-Nun-Wer, der Schöpfer [...] ist gegen dich, der Herr seiner Finger.
Du sollst keinen Halt finden in seinen Achseln, denn Geb, der Vater der Götter ist gegen dich, der Herr seiner Achseln, der Herr des Zorns, der Schreckensmächtige.
[Du] sollst keinen Ha[lt finden] in seinen Flanken, denn die geheimen Tore, die Erstgeborenen des Re-Horachte, sind gegen dich, die Herren seiner Flanken.4
Du sollst keinen Halt finden in seinem Magen, denn die Hand des [4,5] Horachte ist gegen dich, die Herrin seines Magens.
Du sollst keinen Halt finden in seinem Herzen, denn Atum, der Herr der beiden Länder, ⟨der Herr⟩ von On, ist gegen dich, der Herr seines Herzens.
[Du] sollst [keinen Halt finden] in seiner Leber, in ⟨seiner⟩ Milz und ⟨seiner⟩ Lunge, in irgendeinem seiner Eingeweide, denn Amset, Hapi, Duamutef und Qebehsenuef sind ⟨gegen⟩ dich, die großen Götter, die in seinem Leib sind.
Du kannst keinen Halt finden in seinen Rückenwirbeln, denn das Schlangenmännchen, das aus On stammt, ist gegen dich, der Herr seiner Rückenwirbel, der „der den Bedarf festlegt“ heißt, wenn er tötet [...], [...]5
Du sollst keinen Halt finden in seinem Hintern, denn Sachmet ist gegen dich, die Herrin seines Hintern.
Du sollst keinen Halt finden in [seinem Damm], [4,10] denn Seth ist gegen dich, der Herr seines Dammes, der ⸢große Gott⸣,[der innerhalb der] Neunheit [lebt].6
Du sollst keinen Halt finden in seinem Penis, denn der h[ochfedrige] Min ist gegen dich, der Herr seines Penis.
Du sollst keinen Halt finden in seinen beiden Schenkeln, denn Month, der als Kämpfer agiert, ist gegen dich, der Herr seiner Schenkel.
[Du] sollst [keinen Halt finden ...]7
1 M.E. handelt es sich bei ḥꜣ.tj=f hnw um eine idiomatische Verbindung. Sinngemäß müssten mit „gut“ und „schlecht“ die Zähne gemeint sein. Wie schon Suys (1934) anmerkt, fügen sich die Verse 85 f. nicht recht in den Kontext ein.
2 Das letzte Wort des Verses, ḫꜣbꜣs geschrieben, wird von Suys mit „barbe prosteriche“ übersetzt. Leider ist die Parallele pGeneve MAH 15274, rt. 2,2–3 zu zerstört, um hier Hilfestellung zu bieten. Jedoch erscheint es mir wahrscheinlicher, dass hier ḫꜣbꜣs (Wb 3, 230,1) vorliegt als das von Suys angenommene ḫbs.wt „Bart“, denn für ersteres ist eine ganz ähnliche Schreibung in pTurin 1886, PuR 20, 10 belegt. Statt des Sterndeterminativs steht in pVatikan 38573 jedoch ein nach rechts unten gehender Strich, den Massart als aufrecht stehendes Horn interpretiert, in dem ich jedoch einen Götterbart erkennen möchte, mit dem zumindest in griechisch-römischer Zeit ḫꜣbꜣs geschrieben werden kann. Das Epitheton „Herrscher der Sterne“ wird in griech. Zeit dem Osiris gegeben (vgl. Leitz, Lexikon der ägyptischen Götter und Götterbezeichnungen. Band V. ḥ – ḫ, Orientalia Lovaniensia Analecta 114 (Leuven/Paris/Dudley, MA 2002), 519).
3 Zur Lesung vgl. W. Guglielmi, die Göttin Mr.t. Entstehung und Verehrung einer Personifikation, Probleme der Ägyptologie 7 (Leiden/New York/København/Köln 1991), 107.
4 Wie Suys 1934, 85, anmerkt, dürfte hier ein komplexes Wortspiel vorliegen: sbḫ.wt (Tore) = rw.tj (Doppeltor) = Rw.tj (Löwenpaar Schu und Tefnut).
5 Das letzte Wort in 4,8 ist auf den Photos nicht zu entziffern. Der Anfang von 4,9 ist zwar gut lesbar, aber der Text ist zu verderbt für eine sinnvolle Übersetzung.
6 Als Ergänzung habe ich die Formel aus pGeneve MAH 15274 rt. 2,1–2 herangezogen. Dort wird der Damm zwar Sobek unterstellt, doch abgesehen davon sind die Formeln identisch.
7 Der Papyrus bricht hier ab.
Übersetzung nach Stegbauer 2015, 277–290 (Spruch 51).