Ostrakon HargM 10823
Übersetzung und Kommentar
Brief über Gänsefett und die weise Frau
[1] Der Vorzeichner Nachtamun an Chai und Baki:
Der Vorzeichner Nebre kann nicht schlafen. Lasst augenblicklich etwas frisches Graugansfett suchen [5] und es herbeibringen! Bitte geht doch zu der Weisen Frau wegen der Untoten1. [Meine] Ahnin oder mein Ahn2 mögen deswegen zu uns herauskommen. Es sind Machterweise3, die zur Stunde in ihm sind.
1 Zur „Weisen Frau“ s. J. F. Borghouts, Divine Intervention In Ancient Egypt And Its Manifestation (bꜣw), in: R. J. Demarée – J. J. Janssen (Hrsg.), Gleanings from Deir el-Medîna, Egyptologische Uitgaven 1 (Leiden 1982), 1–70, hier: 24–27, D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131–160, J. Toivari-Viitala, Women at Deir el-Medina. A Study of the Status and Roles of the Female Inhabitants in the Workmen’s Community during the Ramesside Period, Egyptologische Uitgaven 15 (Leiden 2001), 228–231, M. A. Nassar, The Wise Woman and the Healing Practice (O. OIM 16974), in: Journal of Ancient Egyptian Interconnections 24, 2019, 41–48, hier: 43–44. Während Demarée tꜣ rḫ.t n mwt.w: mit „the woman who knows about deaths“ übersetzt, könnte n mwt.w auch den Grund angeben, weswegen die „Weise Frau“ aufgesucht wird (hier: „wegen der Untoten“). So auch die Übersetzung der ähnlichen Phrase auf Ostrakon DeM 1688 bei Karl, a.a.O., 135. Sie sieht a.a.O., 143 den Toten als „Symptom einer Manifestation“, d.h. des bꜣ.w-Machterweises, der den Schreiber dieses Ostrakons heimsucht. Vergleichbar dazu könnte auf Ostrakon HargM 10823 ein Totengeist als Ursache für Nebres Schlaflosigkeit angesehen werden.
3 [tꜣy=j] mw.t m-rʾ-pw pꜣy=j jt: Wörtlich steht hier „[meine] Mutter oder mein Vater“. Im vergleichbaren Ostrakon DeM 1688 wird eine „Weise Frau wegen des/eines Toten“ befragt, woraufhin ein gewisser Pasched „herauskommt“ und den Machterweis identifiziert, s. D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131–160, hier: 135–140 (mit Anm. 34 zur Frage, ob Pasched eine Person oder die Gottheit „der Retter“ ist). Auf diesem Ostrakon gewinnt man den Eindruck, als ob die „herausgekommene“ Person oder Gottheit eine Mittlerrolle zwischen dem Betroffenen, der Weisen Frau, dem Totengeist und der Gottheit spielt.
In Ostrakon HargM 10823 ist jedoch der Vater des Briefschreibers dieselbe Person wie der Betroffene. Daher kann der jt nur dann die Funktion eines Mittlers sein, wenn dieses Substantiv nicht den Vater, sondern den Großvater oder andere männliche (und schon verstorbene) Vorfahren meint (so auch R. Demarée, E-Mail vom 27.05.2024). Eine passendere Übersetzung wäre daher vielleicht „Ahn“. Eine weniger gehobene Alternative wäre nur „Großvater“, den man dann aber, um der fehlenden Spezifität an dieser Stelle Rechnung zu tragen, bei der Übersetzung in den Plural setzen müsste: „meine Großväter“.
Analog zu jt kann dann auch mw.t nicht die Mutter des Briefschreibers sein, sondern muss seine Großmutter oder andere weibliche Vorfahrin sein.
3 Zu diesen Machterweisen von diversen Göttern als Anlass für die Aufsuchung einer „Weisen Frau“ s. D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131–160, hier: 139–144.