Ostrakon HargM 10823

Metadaten

Inventarnummer: 10823

Erwerbsgeschichte

Das Objekt ist eine Schenkung von James Roberts Ogdon und kam in den 1930er Jahren in die Sammlung, Demarée 2024, 5.

Herkunft
Niltal südlich von Assiut bis zum 1. Katarakt » Theben » westliches Ufer » Deir el-Medineh

R. Demarée gibt nicht explizit einen Fundort des Ostrakons an, aber er identifiziert den Absender des Briefes Nachtamun (iii), seine Adressaten als dessen Bruder Chai (i) und dessen Sohn Baki (iv) und Nebre, dessentwegen er schreibt, mit Nachtamuns und Chais Vater Nebre (i), Demarée 2024, 10. Daher dürfte das Ostrakon mit relativer Sicherheit aus Deir el-Medina oder der näheren Umgebung stammen.

Datierung
(Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Neues Reich » 19. Dynastie

Datierung aufgrund der im Text genannten Personen, vgl. Demarée 2024, 10.

Textsorte
Brief
Inhalt

Das Ostrakon enthält einen kurzen Brief des Vorzeichners Nachtamun, der seinen Bruder Chai und seinen Sohn Baki darum bittet, schnellstmöglich Gänsefett zu besorgen, um damit die Schlaflosigkeit seines Vaters Nebre zu kurieren (zu den Familienverhältnissen s. Demarée 2024, 10). Wie genau das Gänsefett dabei angewendet werden und helfen soll, geht aus dem kurzen Brief nicht hervor, aber Demarée, a.a.O., 1011 vergleicht es mit der Verwendung bei Kopfschmerzen im Rezept Eb 250 sowie den Salbmitteln Eb 401 und Eb 417 (wobei in Ebers 250 nicht konkret Gänsefett genannt wird und die beiden anderen Rezepte eher bei Problemen der Sehkraft zur Anwendung kommen); insgesamt vermutet Demarée aber, dass die Schlaflosigkeit des Nebre durch Angstträume oder Alpträume verursacht sein könnte – das wird wohl mit dem am Ende erwähnten „Machterweis“ (scil.: eines Gottes) gemeint sein.

Zur Linderung der Probleme werden die Adressaten außerdem aufgefordert, die sogenannte „weise Frau“ aufzusuchen, eine in mehrfachen Texten genannte, aber in ihrem Wirkungsbereich noch nicht ganz fassbare Person, die oft wegen des „Machterweises“ einer meist konkret genannten Gottheit aufgesucht wird, s. Karl 2000, spez. 139141. Der Grund für diesen Machterweis scheint meist irgendein Vergehen der betroffenen Person zu sein, das nun vermeintlich durch eine Gottheit bestraft wird, s. Karl, a.a.O., 141144; er äußert sich bspw. durch eine Beeinträchtigung der Augen (was den Link zu den von Demarée erwähnten Rezepten bilden könnte), kann sich aber auch in „irgendeinem Körperteil“ äußern oder, wie wohl auch in Ostrakon HargM 10823, von einem Untoten, d.h. einem Wandelgeist, verursacht sein. Man wird also am ehesten an psychische oder psychosomatische Beeinträchtigungen denken können, ohne dass eine Festlegung auf ein bestimmtes Leidensfeld moderner Definitionen möglich wäre.

Die weise Frau kann bei ihrer Behandlung auch Verstorbene als Mittler zwischen den Göttern und den Betroffenen anrufen: Im Ostrakon DeM 1688 ist es ein gewisser Pasched, bei dem es sich vielleicht eher um eine verstorbene Person als um die Gottheit „Der Retter“ handelt (wobei absichtlich eine Person dieses Namens gewählt worden sein könnte). Im Ostrakon HargM 10823 scheinen die Vorfahren des Nebre eine solche Rolle zu spielen.

Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit dem Brief Ostrakon Berlin P 14841, in dem Chai gebeten wird, schnell neues Gänsefett zu schicken, weil das zuvor geschickte von der Katze gefressen wurde.

Ursprünglicher Verwendungskontext

Es handelt sich um den Teil der Korrespondenz zwischen Nachtamun und seiner Familie.

Material
Nicht Organisch » Stein » Kalkstein
Objekttyp
Artefakt » Schriftmedien » Ostrakon
Technische Daten

Das Ostrakon misst 12,2 cm × 10,2 cm (H × B) und ist nur auf einer Seite mit schwarzer Tinte beschriftet.

Schrift
Hieratisch
Sprache
Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Neuägyptisch

Im Text finden sich neuägyptische syntaktische Konstruktionen.

Bearbeitungsgeschichte

Die Erstedition stammt von Demarée 2024.

Editionen

- Demarée 2024: R. J. Demarée, Fresh Goose-Fat to Cure a Nightmare?, in: Bulletin de la Société d’Égyptologie de Genève 34, 2024, 514.

Literatur zu den Metadaten

- Demarée 2024: R. J. Demarée, Fresh Goose-Fat to Cure a Nightmare?, in: Bulletin de la Société d’Égyptologie de Genève 34, 2024, 514.

- Karl 2000: D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131160.

Eine vollständige Bibliographie finden Sie hier.

Autoren
Dr. Lutz Popko
Autoren (Metadaten)
Dr. Lutz Popko

Übersetzung und Kommentar

Brief über Gänsefett und die weise Frau

[1] Der Vorzeichner Nachtamun an Chai und Baki:
Der Vorzeichner Nebre kann nicht schlafen. Lasst augenblicklich etwas frisches Graugansfett suchen [5] und es herbeibringen! Bitte geht doch zu der Weisen Frau wegen der Untoten1. [Meine] Ahnin oder mein Ahn2 mögen deswegen zu uns herauskommen. Es sind Machterweise3, die zur Stunde in ihm sind.

1 Zur „Weisen Frau“ s. J. F. Borghouts, Divine Intervention In Ancient Egypt And Its Manifestation (bꜣw), in: R. J. Demarée – J. J. Janssen (Hrsg.), Gleanings from Deir el-Medîna, Egyptologische Uitgaven 1 (Leiden 1982), 170, hier: 2427, D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131160, J. Toivari-Viitala, Women at Deir el-Medina. A Study of the Status and Roles of the Female Inhabitants in the Workmen’s Community during the Ramesside Period, Egyptologische Uitgaven 15 (Leiden 2001), 228231, M. A. Nassar, The Wise Woman and the Healing Practice (O. OIM 16974), in: Journal of Ancient Egyptian Interconnections 24, 2019, 4148, hier: 4344. Während Demarée tꜣ rḫ.t n mwt.w: mit „the woman who knows about deaths“ übersetzt, könnte n mwt.w auch den Grund angeben, weswegen die „Weise Frau“ aufgesucht wird (hier: „wegen der Untoten“). So auch die Übersetzung der ähnlichen Phrase auf Ostrakon DeM 1688 bei Karl, a.a.O., 135. Sie sieht a.a.O., 143 den Toten als „Symptom einer Manifestation“, d.h. des bꜣ.w-Machterweises, der den Schreiber dieses Ostrakons heimsucht. Vergleichbar dazu könnte auf Ostrakon HargM 10823 ein Totengeist als Ursache für Nebres Schlaflosigkeit angesehen werden.

3 [tꜣy=j] mw.t m-rʾ-pw pꜣy=j jt: Wörtlich steht hier „[meine] Mutter oder mein Vater“. Im vergleichbaren Ostrakon DeM 1688 wird eine „Weise Frau wegen des/eines Toten“ befragt, woraufhin ein gewisser Pasched „herauskommt“ und den Machterweis identifiziert, s. D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131160, hier: 135140 (mit Anm. 34 zur Frage, ob Pasched eine Person oder die Gottheit „der Retter“ ist). Auf diesem Ostrakon gewinnt man den Eindruck, als ob die „herausgekommene“ Person oder Gottheit eine Mittlerrolle zwischen dem Betroffenen, der Weisen Frau, dem Totengeist und der Gottheit spielt.
In Ostrakon HargM 10823 ist jedoch der Vater des Briefschreibers dieselbe Person wie der Betroffene. Daher kann der jt nur dann die Funktion eines Mittlers sein, wenn dieses Substantiv nicht den Vater, sondern den Großvater oder andere männliche (und schon verstorbene) Vorfahren meint (so auch R. Demarée, E-Mail vom 27.05.2024). Eine passendere Übersetzung wäre daher vielleicht „Ahn“. Eine weniger gehobene Alternative wäre nur „Großvater“, den man dann aber, um der fehlenden Spezifität an dieser Stelle Rechnung zu tragen, bei der Übersetzung in den Plural setzen müsste: „meine Großväter“.
Analog zu jt kann dann auch mw.t nicht die Mutter des Briefschreibers sein, sondern muss seine Großmutter oder andere weibliche Vorfahrin sein.

3 Zu diesen Machterweisen von diversen Göttern als Anlass für die Aufsuchung einer „Weisen Frau“ s. D. Karl, Funktion und Bedeutung einer weisen Frau im alten Ägypten, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 28, 2000, 131160, hier: 139144.