Bronzebecher Boston MFA 24.900

Metadaten

Wissensbereiche
Aufbewahrungsort
Nordamerika » U.S.A. » (Städte A-Ch) » Boston (MA) » Museum of Fine Arts

Inventarnummer: 24.900

Erwerbsgeschichte

Im Jahr 1924 von der sudanesischen Altertümerbehörde dem Museum of Fine Arts Boston geschenkt (Homepage MFABoston), sicherlich nach Fundteilung.

Herkunft
Niltal südlich des 4. Katarakts bis Chartum » Meroe

Aus den Grabungen der Harvard University & Museum of Fine Arts Expedition unter der Leitung von G.A. Reisner. Gefunden im Februar 1921 im Schutt des geplünderten Grabes „Beg S 155“ (d.h. Begarawiya South Cemetery, Grab 155), im südlichen Elite-Gräberfeld von Meroe (Fundnummer 21-2-605).

Datierung
(Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Dritte Zwischenzeit » 25. Dynastie

Die Datierung beruht auf dem archäologischen Kontext. Das Gräberfeld „Begarawiya South Cemetery“ wurde in der 2. Hälfte des 8. Jhs. in Betrieb genommen und blieb bis ca. 300-250 v. Chr. in Benutzung (Dunham 1947, 3 und 10: ab der Regierung von Pharao Piye bis in den Generationen 28 bis 30, d.h. von frühestens 747 bis 300–255 v. Chr.; Török 1997, 129; 2009, 313: Er nennt „second half of the 8th century, at the earliest“ als frühesten Beleg für eine Bestattung in ägyptischem Stil in Begarawiya South. Laut Hinkel 1999, 507 war der Friedhof zwischen ca. 720 und 300 v. Chr. in Benutzung). Der Becher wurde gefunden in einem teilberaubten „pit grave“ vom Typus III.B (Dunham 1963, 358), das ägyptische Bestattungsgewohnheiten aufweist (Sinclair 2016, 76), deshalb aus der Zeit nach der Eroberung Ägyptens durch Piye stammen dürfte. Die ikonographischen Motive sind aus thebanischen Gräbern der 18. Dynastie bekannt, aber die Gefäßform und der Inhalt der Inschrift (Böser Blick) verweisen auf Kusch bzw. auf die Zeit nach dem Neuen Reich. Dunham gibt für Grab Beg S 155 als relative Datierung die Zeitstufe Generation „3–4“ an (Dunham 1963, 358), d. h. die Zeit der Regierungen von Schebitku und Schabaka oder 716–690 v. Chr. (Dunham 1950, 3). Laut Homepage MFA-Boston stammt der Becher aus der Napatanischen Periode, mit einer Eingrenzung auf die Zeit ca. 745–655 v. Chr., d.h. die 25. Dynastie (teilweise wird die Napatanische Periode erst nach der 25. Dynastie begonnen).

Textsorte
Rezitation(en) » Beschwörung(en)
Inhalt

Die Inschrift, deren Anfang und Ende verloren sind, ist sicherlich eine Beschwörung gegen den Bösen Blick, wobei die Begriffe „Beschwörung“ und „abwehren“ im zerstörten Textteil zu rekonstruieren sind. Der erhaltene Teil fängt an mit [etwas] Bösem und mit einer bösen Äußerung seitens (?) jeglichen Mannes und jeglicher Frau aus jeglichem (fruchtbaren/zivilisierten) Flachland und jeglichem (trockenen/ausländischen) Bergland, die kommen werden, um den Bösen Blick gegen eine Person mit meroitischem Namen zu richten. Diese Angreifer werden anschließend angesprochen „Hütet (?) euch, den Bösen Blick gegen sie (Sg. fem.?) zu richten (wörtl.: werfen), die ...“ und dann bricht der Text ab. Die Lücke ist kurz und muss irgendeine Unschädlichmachung der Angreifer enthalten habe.

Ursprünglicher Verwendungskontext

Der Becher wurde in einem Grab gefunden, aber das war möglicherweise nicht der ursprüngliche Verwendungskontext. Text und Ikonographie sowie Material vermitteln die Idee von Schutz vor dem Chaos und dem Bösen (Sinclair 2016). Man könnte mutmaßen, dass der Becher in einem Schutzritual gegen den Bösen Blick und gegen weitere negative Kräfte genutzt wurde, in dem der Patient oder Nutznießer ein magisch aufgeladenes Getränk zu sich nahm. Andererseits besagt der Text, dass eine spezifische Person mit einem meroitischen Personennamen vor dem Bösen Auge geschützt werden solle, so dass der Becher personalisiert und nicht allgemein benutzbar war. Ob der Becher schon zu Lebzeiten genutzt wurde oder spezifisch als Grabbeigabe hergestellt wurde, lässt sich nicht entscheiden.

Material
Nicht Organisch » Legierung » Bronze
Objekttyp
Artefakt » Behälter » Gefäß » Becher
Technische Daten

Bronzener Becher mit rundem Boden (Wildung 1998, 191: „Napf“; Fischer-Elfert verwendet den Begriff „Napf“, der Titel seines Artikels spricht von einer „Schale“; englisch „bowl“). Höhe 11,2 cm, Durchmesser 12,4 cm. Vier Dekorationsstreifen sind auf der Außenseite angebracht: unten (auf dem Boden) offene Lotosblüte; 2. Register: figurliche Darstellung mit Tieren und Pflanzen; 3. Register: Schuppenmuster; 4. Register (Rand des Bechers): Textband. Die figurliche Darstellung ist fortlaufend, es ist kein eindeutiger Anfang oder Ende markiert. Trotzdem kann man drei Teile erkennen, wobei die Teile 1 und 3 zum mittleren Teil hin orientiert sind. Im „Zentrum“ steht ein Papyrusdickicht, in dem sich ein Falke mit Doppelkrone auf einem Sockel befindet; links davon eine Jagdszene mit einem Hund, der eine männliche und eine weibliche Antilope oder Gazelle in der Steppe oder Wüste jagt; rechts davon eine Dumpalme, in der eine Meerkatze herumklettert, und ein zur Dumpalme hin orientierter Pavian; außerdem drei Udjataugen sowie zwei herunterhängende Lotosblüten über Jagdszene und Pavian. Die Inschrift hat vermutlich über der weiblichen Gazelle eingesetzt, aber Anfang und Ende des umlaufenden Bandes sind zerstört.

Schrift
Hieroglyphen

Ziemlich schematisch eingraviert.

Sprache
Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Mittelägyptisch » traditionelles Mittelägyptisch

Der Text verwendet den bestimmten Artikel pꜣ und die Relativkonstruktion n.tj (ḥr) jyi̯.t r ḫꜣꜥ (mit Auslassung der Präposition), was auf einen neuägyptischen Einfluss hinweist.

Bearbeitungsgeschichte

Der Becher wurde von Dunham 1963 als Zeichnung des Dekors mit der Inschrift publiziert. Die Zeichnung wurde von Wildung 1996, 191 übernommen. Bei ihm findet man auch ein Farbfoto. Fischer-Elfert 2014 übersetzte und interpretierte die Inschrift. Die Ikonographie und Materialität des Bechers wurden eingehend von Sinclair 2016 untersucht, die auch eine neue Zeichnung anfertigte (Sinclair 2016, 79, Fig. 1), in der die hieroglyphische Inschrift jedoch nicht vollständig wiedergegeben ist.

Editionen

- Dunham 1963: D. Dunham, The West and South Cemeteries at Meroë, Excavated by the late George Andrew Reisner, The Royal Cemeteries of Kush 5 (Boston 1963), 358–360 mit Abb. 190.D (Profilzeichnung) und 191 (Dekorzeichnung) (Fundnummer 21-2-605).

- Fischer-Elfert 2014: H.-W. Fischer-Elfert, Ein Spruch gegen den Bösen Blick in Meroe: Anmerkungen zur Bronzeschale Boston MFA 24.900 aus Grab S 155 der Südnekropole, in: Orientalia 83/1, 2014 (= E. M. Ciampini – F. Contardi – G. Rosati (Hrsg.), Ex amicitia... Egyptological Studies offered to Alessandro Roccati by some of his colleagues), 31–49.

- Sinclair 2016: A. Sinclair, The Iconography of the Boston MFA Bronze Bowl with Incised Decoration from Tomb S 155 in the Southern Necropolis at Meroë in Sudan, in: The Amphora Issue = Melbourne Historical Journal 43/2, 2016, 74–118.

- Wildung 1998: D. Wildung (Hrsg.), Sudan. Antike Königreiche am Nil (München 1996) (= D. Wildung - J. Heise (Hrsg.), Die Pharaonen des Goldlandes. Antike Königreiche im Sudan. Im Reiss-Museum Mannheim vom 16. Juni bis 18. Oktober 1998 (Mannheim 1998)), 190–191 (Nr. 198).

Literatur zu den Metadaten

- Dunham 1947: D. Dunham, Outline of the Ancient History of the Sudan. Part 5. The Kingdom of Kush at Napata and Meroe (750 B.C. to A.D. 350), in: Sudan Notes and Records 28, 1947, 1–10.

- Dunham 1950: D. Dunham, El Kurru, The Royal Cemeteries of Kush 1 (Cambridge MA 1950).

- Hinkel 1999: F. W. Hinkel, s.v. Meroe, cemeteries, in: K. A. Bard (Hrsg.), Encyclopedia of the Archaeology of Ancient Egypt (London/New York 1999), 505–510.

- Pries 2020: A. H. Pries, Eine neue Beschwörung gegen den bösen Blick und ein nicht identifizierter demiurgischer Text, in: K. Ryholt (Hrsg.), Hieratic Texts from Tebtynis. Including a Survey of Illustrated Papyri, CNI Publications 45. The Carlsberg Papyri 15 (Copenhagen 2020), 43–59 und Taf. 11–12 (hier: 52 mit Anm. 49).

- Quack 2022: J. F. Quack, Altägyptische Amulette und ihre Handhabung, Orientalische Religionen in der Antike 31 (Tübingen 2022), 146.

- Török 1997: L. Török, The Kindom of Kush. Handbook of the Napatan-Meroitic Civilization, Handbuch der Orientalistik. 1. Abteilung: Der Nahe und Mittlere Osten 31 (Leiden/New York/Köln 1997).

- Török 2009: L. Török, Between Two Worlds. The Frontier Region between Ancient Nubia and Egypt 3700 BC – AD 500, Probleme der Ägyptologie 29 (Leiden/Boston 2009).

 Eine vollständige Bibliographie finden Sie hier.

Autoren
Dr. Peter Dils

Übersetzung und Kommentar

Spruch gegen den Bösen Blick

[1] [Spruch des Abwehrens des Bö]sen [Blicks]1 (?) und (?) des Bösen Spruchs/Mundwerks2 〈eines〉 jeden Mannes und 〈einer〉 jeden Fr〈au〉3 (aus?) jedem flachen (zivilisierten) Land und jedem Berg-/Fremdland, die kommen,4 um den Bösen Blick gegen (Frau) Mꜥ~kꜣ~sꜣ~kdy~q, die (Frau) Dp~sꜣ~kꜣ5 geboren hat, zu richten (wörtl.: werfen).
Hütet (?) euch, den Bösen Blick gegen sie zu richten (wörtl.: werfen), die wird/werden [... ...]!

1 Hier wird der Rekonstruktion von Fischer-Elfert 2014, 43 gefolgt.

2 Für den Zusammenhang zwischen dem Bösen Blick und der Bösen Nachrede verweist Fischer-Elfert auf Holztafel Berlin P. 23308, Vso. 1–3 (S. Schott, Ein Amulett gegen den bösen blick, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 67, 1931, 106–110).

3 Fischer-Elfert 2014, 43–44 weist darauf hin, dass diese Termini normalerweise den Patienten bzw. die Patientin bezeichnen, aber dass in diesem Text vielleicht der Verursacher und die Verursacherin des Bösen Blickes gemeint sind. Ob "jedem flachen (zivilisierten) Land und jedem Berg-/Fremdland" parataktisch als weitere Verursacher oder als Herkunftsorte "〈eines〉 jeden Mannes und 〈einer〉 jeden Fr〈au〉" zu verstehen sind, sei dahingestellt.

4 Fischer-Elfert 2014, 43 übersetzt mit „eines jeden Flachlandes, eines jeden Hügellandes, das daherkommen sollte“. In Papyrus Leiden I 348, Vso 2.1 findet sich „der kommt, um anzugreifen“.

5 Mꜥ~kꜣ~sꜣ~kdy~q ⸮msi̯(.n)? Dp~sꜣ~kꜣ: Vermutlich ein meroitischer Frauenname, gefolgt vom Namen der Mutter. Siehe K. Zibelius-Chen, Die nicht ägyptischsprachigen Lexeme und Syntagmen in den chapitres supplémentaires und Sprüchen ohne Parallelen des Totenbuches, in: Lingua Aegyptia 13, 2005, 181–224 (hier: 221), die einen meroitischen Namen *mkse-kdi-qo mit dem Element kdi „Frau“ rekonstruiert.