Geographie und Topographie
Geographische Kenntnisse gehörten wohl spätestens seit dem Mittleren Reich zum „Schulstoff“, wie sich an den Wortlisten oder Onomastika zeigt, in denen auch Städte Ägyptens und Regionen jenseits von Ägypten aufgelistet sind. Ihr hauptsächlicher Zweck war es wohl, die zukünftigen Beamten mit den Schreibungen von Ortsnamen vertraut zu machen, doch es ist anzunehmen, dass in diesem Zusammenhang auch darüber hinausgehende Informationen vermittelt wurden: So unterstellt etwa in der Ramessidenzeit der Beamte Hori in einem Ausschnitt des berühmten Papyrus Anastasi I seinem Briefpartner Amenemope, sich in den ägyptisch kontrollierten Gebieten Vorderasiens nicht auszukennen.
Das aus der griechisch-römischen Epoche stammende „Buch vom Fayum“ zählt zu den Wissensbereichen, die in der Tempelschule angesiedelt sind, unter anderem die Kenntnis „vom Himmel, der Erde, der Unterwelt, der oberägyptischen und der unterägyptischen Kapellenreihe, den Winden, dem Zustand des Wassers, den Anhöhe(n) (?)“. Noch der spätantike griechische Gelehrte Clemens von Alexandrien listet unter dem Kanon ägyptischen Priesterwissens auch die Geographie auf. Ausdruck dieses kanonisierten Wissens sind vielleicht die Votivellen, Nachahmungen echter Ellen mit Mess-Skala, die Angaben zu den Ausmaßen Ägyptens, eine Auflistung der ägyptischen Provinzen und diverse kurze religiöse Texte enthalten.
Abb. 1: Turiner Lagerstättenpapyrus (Pap. Turin Cat. 1869+1879+1899 = Pap. Turin CG 17468), Ausschnitt
Soweit es sich in den Quellen greifen lässt, ist ansonsten die Reflexion über den eigenen geographischen Horizont thematisch beschränkt. Eine einzige Landkarte mit einem Ausschnitt des Wadi Hammamat bezeugt die Existenz dieses Genres in Ägypten. Eine besondere Gattung von Tempelinschriften/-reliefs, die Gaulisten, zeigt die ägyptischen Provinzen (in der deutschsprachigen Ägyptologie traditionell als „Gau“ bezeichnet) in meist personifizierter Form zusammen mit zugehörigen heiligen Orten, Bäumen, Kanälen, Sümpfen etc. Daneben gibt es, v.a. in der griechisch-römischen Epoche Ägyptens, etwas ausführlichere Gaumonographien und Priesterhandbücher. Die primäre Funktion dieser Texte ist jedoch die Präsentation Ägyptens in seiner Gesamtheit als Einzugsbereich des jeweiligen Tempels (Gaulisten) bzw. eine mythogeographische/kulttopographische Beschreibung einer Region (Gaumonographien, Priesterhandbücher), und nicht eine topographische Beschreibung des Landes. Dem vergleichbar dienen Fremdvölkerlisten auf Tempelwänden und Statuensockeln primär der Propaganda, die den König als Herrscher über die Welt darstellt, auch wenn sie dadurch bedingt Einblick in den geographischen Horizont der Ägypter zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift geben.
Das geographische Beschreibungsvokabular ist nur wenig bekannt. Klar ersichtlich ist, dass das ägyptische Weltbild, ganz gegenteilig zum modernen westeuropäischen, nicht genordet, sondern gesüdet ist, was etwa Anordnung geographischer Entitäten in den genannten Onomastika bestimmt. Hinweise auf die Südausrichtung finden sich schon in der ägyptischen Sprache: Das Wort für „Westen“ leitet sich von einer Wurzel für „rechts“ ab und wenn der Ägypter „südwärts“ fuhr, dann bewegte er sich dem ursprünglichen Wortsinn nach „vorwärts“. Dementsprechend gehen die erwähnten Gaulisten und Ortsnamenlisten von Süden nach Norden vor. Der geographische Horizont umfasst lange Zeit die Levante und Teile Afrikas, etwa den Raum auf der hier dargestellten Karte:
- Kreta, die griechischen Inseln und die Peloponnes im Norden gehörten zu den entferntesten Regionen, trugen anfangs teils sogar einen halbmythischen Charakter, vergleichbar mit der Terra Australis Incognita der frühen Neuzeit.
- Die Frage, wie weit die geographischen Kenntnisse nach Afrika hinein reichten, dependiert von der noch immer nicht abschließend geklärten Lage von Punt im Südosten und dem Endpunkt des im Alten Reich benutzten Abu-Ballas-Trails im Südwesten.
- In Vorderasien kannten die Ägypter in älterer Zeit sicher den syrisch-palästinensischen Raum, im Neuen Reich auch Teile Anatoliens; der Euphrat wurde im Neuen Reich bekannt. Eine jüngst in Taima entdeckte Inschrift (s. BIFAO 111, 2011 und ZOrA 6, 2013) zeigt auch ein Interesse an der arabischen Halbinsel, ohne dass klar ist, welche geographischen oder sonstigen Kenntnisse die Ägypter von ihr hatten. Im 1. vorchristlichen Jahrtausend dehnte sich, spätestens mit der persischen Besetzung, der Horizont bis nach Indien aus.
- Das westliche Mittelmeer scheint lange Zeit ein weißer Fleck auf der ägyptischen mentalen Landkarte gewesen zu sein. Vereinzelte in Spanien und Italien gefundene ägyptische Objekte sind sicher durch phönizisch-punische Zwischenhändler an ihren Fundort gelangt.
Entdeckungsreisen ohne ökonomischen Hintergrund hat es nicht gegeben; die Glaubwürdigkeit der Umsegelung Afrikas im 7. Jh. v. Chr. in ägyptischem Auftrag ist umstritten. Die Erkundung fremder Länder war stets ein Nebenprodukt von Handelsreisen oder Kriegszügen. Analog dazu fehlen echte Reiseberichte; Anklänge daran finden sich allenfalls in Beamtenbiographien oder Literaturwerken.
Ob die Ägypter von der Kugelgestalt der Erde wussten, ist ebenfalls umstritten. Ausgangspunkt der Diskussion sind die Längenangaben in den Unterweltsbüchern; theoretische Abhandlungen zu dieser Frage sind nicht überliefert. Aus der Erdkrümmung allein, selbst wenn sie bewusst beobachtet wurde, lässt sich im Rahmen des oben gezeichneten geographischen Horizonts nicht zwangsläufig eine Kugelgestalt der Erde ableiten.