Ostrakon Berlin P. 1269

Metadaten

Aufbewahrungsort
Europa » Deutschland » (Städte A-G) » Berlin » Ägyptisches Museum und Papyrussammlung

Inventarnummer: 1269

Digitaler Katalog

-

Erwerbsgeschichte

Das Ostrakon wurde laut der Museumsdatenbank (Informationen zur Verfügung gestellt von J. Moje) dem Museum von Richard Lepsius im Juli 1881 geschenkt.

Herkunft
(unbekannt)

Die Herkunft ist unbekannt, aber das Material Kalkstein deutet auf Theben hin.

Datierung
von: (Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Neues Reich » 20. Dynastie bis: (Epochen und Dynastien) » Pharaonische Zeit » Neues Reich » 20. Dynastie

Datierung nach Generalverwaltung 1911, Taf. 26. Eine Begründung wird nicht gegeben, aber sie dürfte in der Paläographie zu suchen sein. Vgl. bspw. die Form des Pflanzenstängels mit kreisförmigem Abschluss in Zeile rto 5 oder das stark ligaturierte Hieratogramm für den Finger über dem schlagenden Arm in rto 10. Auch die Schreibung des Lassos (wꜣ) in vso 1 ohne vorderen Schrägstrich scheint eher für die 20. Dynastie zu sprechen.

Beim Adjektiv bjn fehlen dem klassifizierenden „schlechten Vogel“, Gardiner Sign-list G35, zwar noch die Flügel bzw. die diakritische doppelte Linie im Rücken, wie sie Möller 1965 (= 1927), Nr. 197 für die 2. Hälfte der 20. Dynastie verzeichnet, aber das könnte auch durch die Gruppierung dieses Zeichens mit dem n von bjn bedingt sein, das den freien Raum über dem Vogel ausfüllt.

Textsorte
Rezitation(en) » Beschwörung(en)
Inhalt

Der Text weist sich selbst in der Überschrift als Beschwörung einer „schlimmen“ Geschwulst namens ḫzd aus. Diese wird personalisiert, d.h. als Dämon betrachtet, der Zeile rto 9 zufolge das Gesicht eines Geiers(?) hat. Zu seiner Bekämpfung werden zunächst die Manifestationen des Sonnengottes und danach Thot angerufen, der vom Magier verkörpert wird und als Schöpfer des eigentlichen Spruches erscheint. Darin werden die Geschwulst und ihr „Wasser“, d.h. wohl eine nässende Begleiterscheinung, aufgefordert, sich nicht weiter auszubreiten (oder – weniger wahrscheinlich – den Patienten gar nicht erst zu befallen). Anschließend wird der Geschwulst angedroht bzw. ihr angekündigt, dass eine pluralische Entität, d.h. vielleicht Re und Thot und/oder die Manifestationen des Re, sie beseitigen, zerfetzen und an ferne Gestade verbannen werden.

Eine kurze Rezitationsanweisung am Ende zeigt gibt an, dass dieser Spruch vier Mal zu rezitieren ist. Die allerletzten Wörter könnten magische Requisiten auflisten, die zum Einsatz kamen. Aber dies ist aufgrund der Zerstörungen unsicher.

Posener 1965, 341 verbindet dieses Ostrakon mit einem magischen Spruch auf Ostrakon Deir el-Medineh 1215 (Posener 1952, Taf. 49+49a), den laut seiner Überschrift Thot selbst erschaffen hat und der zur Heilung des Sonnengottes von einer ebensolchen „schlimmen ḫzd-Geschwulst“ dient.

Ursprünglicher Verwendungskontext

Das Ostrakon könnte einem Magier als Vorlage für ein Ritual zur Beschwörung der Geschwulst gedient haben.

Material
Nicht Organisch » Stein » Kalkstein
Objekttyp
Artefakt » Schriftmedien » Ostrakon
Technische Daten

Das Ostrakon ist laut der Berliner Museumsdatenbank 30,5 cm breit, 20,7 cm hoch und 3,2 cm dick. Die obere Kante (der Vorderseite) ist relativ gerade. Das Ostrakon weist insgesamt ein grob rechteckiges Format auf, wobei das untere linke Viertel weggebrochen ist. Dadurch fehlt in den unteren Zeilen ein Teil der Zeilenenden, aber es ist unklar, ob das Ostrakon dort ursprünglich genauso breit war wie weiter oben.

Das Ostrakon ist relativ dick, und der Schreiber hat am linken Rand die Zeilen über die linke Kante der vorderen Sichtseite hinweg geschrieben und die linke Seite des Ostrakons für die Zeilenenden mitbenutzt.

Als der Schreiber am Ende der Vorderseite ankam, hat er das Ostrakon über die vertikale Achse gedreht, um die Rückseite zu beschriften, d.h. der Text auf der Rückseite steht gegenüber der Vorderseite auf dem Kopf. Für weiteres s. die Details zur Schrift und den Kommentar zu Zeile 13-14.

Schrift
Hieratisch

Die Handschrift zeigt ein meist klares Hieratisch mit nur sehr wenigen Ligaturen. Auf Vorder- und Rückseite finden sich rote Verspunkte, aber keine Rubra. Der Text der Vorderseite ist anfangs noch relativ eng geschrieben, wurde aber gegen Ende etwas größer und luftiger. Auf der Rückseite ist die Schrift vollends größer und in einem großzügigeren Abstand geschrieben.

Sprache
Ägyptisch-Koptisch » Ägyptisch » Neuägyptisch

Der Text verwendet die Artikelreihe pꜣ, tꜣ, nꜣ sowie das Possessivpronomen nꜣy=sn, aber noch das pluralische Suffixpronomen =sn statt =w. Auf der Rückseite wird das Negationsverb tm mit einem Infinitiv kombiniert statt mit einem Negativkomplement. Die Negation erfolgt mit nn, nicht mit bn.

Bearbeitungsgeschichte

Das Ostrakon wurde in Umzeichnung (durch G. Möller) und hieroglyphischer Transliteration (durch A.H. Gardiner) unter den Anhängen von Generalverwaltung 1911 publiziert (Taf. 26-27). G. Posener erwähnt das Ostrakon als Vergleichsobjekt des von ihm unter der Nummer 1215 publizierten magischen Ostrakons gegen dasselbe Leiden (Posener 1951, 29), ebenso wie Westendorf 1999, 295. Das Ostrakon wurde im Rahmen der Wörterbucharbeit von Gardiner aufgenommen, der eine erste, wenn auch unvollständige Übersetzung anfertigte (einsehbar im Thesaurus Linguae Aegyptiae, https://aaew.bbaw.de/tla, unter den Nummern DZA 50.204.550 – 50.204.570). Eine vollständige Übersetzung findet sich schließlich bei Borghouts 1978, 33-34, Nr. 50. Davon abgesehen, hat das Ostrakon bislang keine größere Aufmerksamkeit erfahren.

Editionen

- Generalverwaltung (Hrsg.), Hieratische Papyrus aus den königlichen Museen zu Berlin. Bd. III. Schriftstücke der VI. Dynastie aus Elephantine. Zaubersprüche für Mutter und Kind. Ostraka, Hieratische Papyrus aus den königlichen Museen zu Berlin 3 (Leipzig 1911), Vorwort und Taf. 26-27

- J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 33-34, Nr. 50

Literatur zu den Metadaten

- Borghouts 1978: J. F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978).

- Generalverwaltung (Hrsg.), Hieratische Papyrus aus den königlichen Museen zu Berlin. Bd. III. Schriftstücke der VI. Dynastie aus Elephantine. Zaubersprüche für Mutter und Kind. Ostraka, Hieratische Papyrus aus den königlichen Museen zu Berlin 3 (Leipzig 1911)

- Möller 1965 (= 1927): G. Möller, Hieratische Paläographie. Die ägyptische Buchschrift in ihrer Entwicklung von der fünften Dynastie bis zur römischen Kaiserzeit. Bd. 2. Von der Zeit Thutmosis’ III. bis zum Ende der einundzwanzigsten Dynastie (Osnabrück 1965 (= 1927)).

- Posener 1951: G. Posener, Catalogue des ostraca hiératiques littéraires de Deir el Médineh II (nos 1109 à 1167), Documents de fouilles de l’Institut français d’archéologie orientale 18 (Le Caire 1951).

- Posener 1952: G. Posener, Catalogue des ostraca hiératiques littéraires de Deir el Médineh (nos 1168 à 1226), Documents de fouilles de l’Institut français d’archéologie orientale 18 (Le Caire 1952).

- Posener 1965: G. Posener, Philologie et archéologie égyptiennes, in: Annuaire du Collège de France 65, 1965, 339-346.

- Westendorf 1999: W. Westendorf, Handbuch der altägyptischen Medizin, Handbuch der Orientalistik I.36 (Leiden 1999).

Autoren
Dr. Lutz Popko
Autoren (Metadaten)
Dr. Lutz Popko

Übersetzung und Kommentar

Beschwörungen einer jeden schlimmen ḫzd-Geschwulst

[rto 1] [Buch/Anfang der Beschwör]ungen1 einer jeden schlimmen ḫzd-Geschwulst, die an jedem Körperglied eines Mannes oder einer Frau entsteht:

Sei gegrüßt, Re, in seinem Namen als „(D)er, der seine Manifestationen2 hervorgebracht hat“! (Ihr) Manifestationen des Re im Himmel, Manifestationen des Re auf Erden, Manifestationen des Re in der Westwüste, [Manifestationen des Re] in der Ostwüste, Manifestationen des Re im Süden, Manifestationen des Re Norden: Es gibt keinen, der sich von euch, den Kindern des Re-Harachte, fernhalten (könnte)3 – (vor) der Großen Neunheit, den Manifestationen des Re, (und) der Kleinen Neunheit, den Manifestationen des Re.4

Thot, der große, der inmitten [rto 5] des Himmels ist, der Schreiber [---]5 des(?) Re und der(?) Neunheit, ältester Sohn des Re, der allen Götter Unendlichkeit gewährt, der die Herren der Schreine zufriedenstellt, der durch mich6 das Udjat-Auge seinem Herrn darbringt: Er hat einen dich (betreffenden) Spruch angefertigt, o schlimme ḫzd-Geschwulst.7 Er (?) hat … entfernt. O halte du inne, halte du inne auf (deinem(?)) Platz, gleichzeitig mit der Großen Neunheit, die an seiner Seite ist.8 O halte du inne, Flüssigkeit der schlimmen und (?) … (?) ḫzd-Geschwulst, gleichzeitig mit9 den zwei Uräusschlangen, die sein Schutz sind. O halte du inne, du schlimme ḫzd-Geschwulst! Halte du inne, [du mit ---]10 unter dir (wörtl.: ihm/sich), mit einem Gesicht als Geier/Schreckensgestalt (?), mit großem Ansehen (?).11 [Die ---] mögen [dich(?)] beseitigen.12 [rto 10] Sie mögen dich mit ihren Hörnern zerfetzen (?)13 [---] dem Quartett der heftigen (wörtl.: großen) Winde, die im [---] sind [---] Dann werden sie machen [---] mit ihren großen [---],14 die [---] zurückdrängen, weggeführt (?) zu fernen Gewässern, (die) man nicht kennt.15 [vso 1]Dann wirst du weggeführt werden zu fernen Fremdländern, (die man) nicht kennt. Dann wirst die deinen Weg nicht in irgendeines meiner Körperteile finden. Dann wirst du nicht in irgendwelchen Körperteilen von NN, den NN geboren hat, hin- und hergehen. Werde vier Mal wörtlich deklamiert.16

[---], Honig und Öl/Fett (?)

1 J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 34 ergänzt den Beginn zurückhaltend mit „[A book of (?) conjura]tions“. Es kann auf jeden Fall nicht viel vom Beginn der Zeile gefehlt haben, denn in der folgenden Zeile scheint nur ein n und der Beginn des ms zerstört zu sein.

2
nꜣ-n msw.t: Gardiner, DZA50.204.550 und J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 33 sehen hier die „Kinder“. Dieses Wort müsste im Plural aber ms.w lauten, nicht ms.wt, so dass man das t an allen Stellen tilgen oder als bedeutungslos erklären müsste (so mehr oder weniger explizit C. Leitz, Lexikon der ägyptischen Götter und Götterbezeichnungen. Bd. III. p-nbw, Orientalia Lovaniensia Analecta 112 (Leuven 2002), 141c, s. unter psḏ.t-ꜥꜣ.t, Funktionen, A.b sowie 156a, s. unter psḏ.t-nḏs.t, Funktionen, A.b, wo ms.w n.w Rꜥw transkribiert ist). Das Substantiv msw.tj: „Nachkomme“, an das man als Alternative denken könnte, ist dagegen relativ selten und zeigt üblicherweise eine deutlich geschriebene tj-Endung. Die msw.t: „Nachkommenschaft“ wiederum ist als Kollektivum syntaktisch ein Singular, d.h. man würde eher tꜣ msw.t als nꜣ-n msw.t erwarten (für Abweichungen von dieser Regel s. vielleicht A.H. Gardiner, Egyptian Grammar. Being an Introduction to the Study of Hieroglyphs, 3rd, rev. edition (Oxford 1957 (Repr. 2001)), § 510.2). Für das hier stattdessen gewählte Wort msw.t in der Bedeutung „Manifestation“ s. J. Baines, Mswt „Manifestation“?, in: Institut d’égyptologie – Université Paul Valéry (Hrsg.), Hommages à François Daumas. Bd. 1 1 (Montpellier 1986), 43-50 (Hinweis Fischer-Elfert). Gleichzeitig zeigt das Wort ẖrd.w in rto 4, dass diese Manifestationen auch als Nachkommen des Re aufgefasst werden können.

3
nn ḥri̯ r=tn: Es gibt keinen Negationssatz des Musters nn + Adverbialphrase. Daher muss man entweder von einem elliptischen Satz #nn Ø + Adverbialphrase# ausgehen, oder ḥr ist an dieser Stelle eigentlich ein Partizip von ḥri̯: „fern sein“, so dass der Satz wörtlich heißt: „Es gibt keinen, der von euch abzusondern ist“ o.ä. Letzteres liegt vielleicht der Übersetzung von Borghouts zugrunde: „there are none except you as children of Rēꜥhorachte“. Noch etwas anders versteht es wohl Gardiner, der auf DZA 50.204.550 übersetzt: „Es wird von euch nicht ausgenommen an irgendwelchen Kindern des Re-Harachte“. Er scheint an einen negierten Verbalsatz mit ausgefallenem bzw. elliptischem Subjekt gedacht zu haben. Keiner von beiden gibt eine Erklärung, was mit diesem Satz gemeint ist. Borghouts’ Übersetzung liest sich wie eine abschließende Bemerkung, dass die zuvor genannten Gruppen alle Nachkommen (bzw. wie hier vorgeschlagen: Manifestationen) des Sonnengottes umfasst – was indirekt durch die folgenden beiden Neunheiten negiert wird, die ebenfalls als seine Nachkommen/Manifestationen erscheinen, wenn auch im einen Fall Re-Harachte, im anderen nur Re genannt ist. Der Text gibt keine Auskunft, wie diese beiden Listen von Göttergruppen „personell“ zueinander stehen. Gardiners Interpretation ist nicht ganz klar, scheint aber in dieselbe Richtung zu weisen.

4
psḏ.t ꜥꜣ.t … psḏ.t nḏs.t …: Es ist unklar, wie beide Sätze syntaktisch anzuschließen sind. Es liegen kaum Adverbialsätze mit einem m of predication vor, denn das ergäbe eine reine Feststellung, dass diese beiden Neunheiten die Manifestationen des Re sind, wohingegen der Kontext eher Vokative o.ä. wahrscheinlicher macht.

5
Die Oberfläche des Ostrakons weist innerhalb dieser Schreibgruppe eine Kante auf, die den Schreibfluss behindert haben könnte – sollte tatsächlich nur n Rꜥw zu lesen und der horizontale Versatz zwischen n und Sonnenscheibe nur durch eben diese Kante bedingt sein? In der abgeriebenen Gruppe davor = der Lücke nach der Schreibpalette hat vielleicht nur ein Klassifikator zu zẖꜣ.w gestanden, so dass die gesamte Gruppe einfach nur als zẖꜣ.w n Rꜥw n psḏ.t: „Schreiber des Re und der Götterneunheit“ zu lesen ist. Auf DZA 50.204.550 vermutet Gardiner dagegen zẖꜣ.w-[šꜥ.t]: „Briefschreiber des Re“. J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 33 ergänzt fragend zu: „the scribe [of righteousness (mꜣꜥ.t) (?)] of Rēꜥ (and) of the Ennead“.

6
jm=j: „durch mich“: Laut J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 104, Anm. 122 gleicht sich hier der Redner an Thot in dessen Rolle als Magier an.

7 So die Übersetzung mit J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 33. Gardiner, DZA 50.204.560 vermutete dagegen, dass nach jri̯.y=f ein Wort fehlen könnte, und schlägt vor: „er … deinen Mund, du schlechte Krankheit“.

8 Unklare Aufforderung. Angeredet wird die schlimme Geschwulst. Daher kann mit p(j) kaum der Thron des Re gemeint sein, wie der adverbiale Zusatz ḥnꜥ psḏ.t-ꜥꜣ.t n.tj r-gs=f zu implizieren scheint. Denn es kann kaum der Wunsch des Magiers sein, die personifizierte, genauer: dämonisierte Krankheit an einem derart exponierten Ort festhalten zu wollen. Daher ist zu überlegen, ob p(j) hier eher die „Stelle“ bezeichnet, an der sich der Dämon befindet. Zu p(j) nicht als Thron oder Thronmatte, sondern als „(Wohn-)Platz“ s. K.P. Kuhlmann, Der Thron im alten Ägypten. Untersuchungen zu Semantik, Ikonographie und Symbolik eines Herrschaftszeichens, Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo, Ägyptologische Reihe 10 (Glückstadt 1977), 70, Anm. 12. Es wäre nur zu klären, welcher Ort genau gemeint ist: Ist es die Stelle am Körper des Patienten, die bereits befallen ist, so dass die ḫzd bjn aufgefordert wird, sich nicht weiter auszubreiten? Oder ist es der „Wohnort“ dieses Dämons, den er gar nicht erst verlassen soll, um jemanden zu befallen? Bei einer derartigen Auffassung von p(j) stellt sich aber erneut die Frage, wie die Adverbiale hinter dem Verspunkt zu verstehen ist. Das Suffixpronomen =f von r-gs=f kann sich dann kaum auf p(j) beziehen, wie bspw. von J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 33 aufgefasst, und auch nicht auf die „schlimme Geschwulst“. Denn warum sollte sich die Große Götterneunheit neben der Krankheit oder deren Aufenthaltsort befinden? Sollte der Bezugsrahmen syntaktisch und semantisch weiter vorn zu suchen sein, in dem Sinne, dass die Geschwulst an ihrem angestammten Platz ebenso fest verharren soll, wie die Götterneunheit nicht von der Seite des weiter vorn im Text genannten Re weicht? Eigentlich wäre jedoch in einem solchen Fall ein Vergleich mithilfe der Präposition mj zu erwarten; vgl. aber immerhin, ein wenig in dieselbe Richtung gehend, die Bedeutung ḥnꜥ: „gleichzeitig mit“ von Wb 3, 111.3.

9 Gardiner erkennt vor ḥnꜥ noch ein auf s endendes Wort, das mit Buchrolle(?) und schlagendem Mann klassifiziert ist. Zwischen diesem Wort und dem bjn dürfte nichts fehlen; es kann aber dennoch keine passende Ergänzung vorgeschlagen werden. Auch J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 34 lässt schlicht eine Lücke. Wenn tatsächlich sonst nichts vom Satz fehlt, wird es sich aus syntaktischen Gründen am wahrscheinlichsten um ein weiteres – partizipiales – Attribut zur Geschwulst handeln, oder um einen zweiten Imperativ, parallel zu ꜥḥꜥ, der dann aber allein, ohne weitere Satzglieder, funktionieren muss. Zur Fortsetzung mit ḥnꜥ vgl. den Kommentar zum vorherigen Satz. Auch hier könnte sich das Suffixpronomen =f auf den Sonnengott beziehen.

10 Die gesamte linke untere Ecke des Ostrakons ist weggebrochen, wobei nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden kann, ob schon vor oder erst nach der Beschriftung. Das heißt: Fehlt ein ganzes, nämlich das untere linke, Viertel des Textes, weil dieses Stück des Ostrakons nach der Beschriftung abgebrochen war? Oder fehlte diese Ecke von Anfang an und von den unteren Zeilen fehlen nur immer kurze Zeilenenden, die vielleicht auf der nach hinten wegknickenden Bruchkante geschrieben waren, wie auch die Enden der oberen sieben Zeilen? Einige der unteren Zeilen der Vorderseite gehen am (erhaltenen) Ende leicht nach oben weg, so als wolle der Schreiber noch jeden verfügbaren Millimeter bis zur Bruchkante ausnutzen. Diese Praxis würde dafür sprechen, dass die Ecke tatsächlich schon fehlte. Gleichzeitig ist der Text im unteren Teil des Ostrakons zum Teil etwas großzügiger verteilt, als ob der Schreiber noch jede Menge Platz zur Verfügung zu haben glaubte. Gardiner, DZA 50.204.560 schreibt hinter die Zeilenanfänge: „grosse Lücke“.

11 ꜥꜣ.y šf.yt: „groß an Ansehen“ ist eigentlich kein Epitheton, das man mit einem Krankheitsdämon verbindet. Ob hier eigentlich ein Vokativ vorliegt und wieder die zu Beginn erwähnten Manifestationen des Re oder andere Gottheiten angesprochen sind? Das pluralische Suffixpronomen =sn in der folgenden Zeile erfordert zumindest die Erstnennung oder die Wiederaufnahme einer pluralischen Personengruppe. Für einen Plural würde auch die Schreibung von ꜥꜣ mit Doppelschilfblatt sprechen – in der kleinen Lücke danach kann kaum etwas anderes als Buchrolle und Pluralstriche gestanden haben. Verwunderlich ist auch das t hinter dem Klassifikator von šf.yt, schon unter dem Verspunkt. Ist er einfach zu tilgen? Ist das Hieratogramm vielleicht gar kein t, sondern ein r, so dass man r dr: „um [dich(?)] niederzuhalten/zu beseitigen“ oder – da sich das nicht sinnvoll an einen Vokativ anschließen lässt – j:dr: „die [dich(?)] niederhalten/beseitigen“ (zum j-Augment als r vor Partizipien s. J. Winand, Études de néo-égyptien. 1. La morphologie verbale, Aegyptiaca Leodiensia 2 (Liège 1992), 344 und F. Junge, Einführung in die Grammatik des Neuägyptischen (Wiesbaden 1996), 68) lesen könnte? Oder handelt es sich dabei gar nicht um ein t oder r, sondern ist es der Henkel eines =k, so dass man doch šf.yt auf den Dämon bezieht? Aber dann müsste die erwähnte pluralische Entität in der anschließenden Lücke genannt sein. Als letzte, wenn auch wenig wahrscheinliche Option sei die Frage aufgeworfen, ob šf.yt nur ein Schreibfehler für šf.wt ist und das Epitheton als „der mit großen/zahlreichen Schwellungen“ zu interpretieren ist.

12 Die Syntax dieser mit dr beginnenden Einheit ist nur unter Berücksichtigung des Folgenden geraten. Vgl. zu den vielen Optionen auch den Kommentar zum vorigen Satz.

13 bꜣ heißt eigentlich „aufhacken“, aber das ist keine Handlung, die man mit Hörnern macht. In einem magischen Spruch gegen Schlangen auf dem MR-Sarg des Imeny, s. hier, ist von einer Schlange die Rede, die die Erde mit ihren ḥnw.t-Hörnern bꜣ-macht. Dort würde vielleicht die Übersetzung „durchpflügen“ passen, wobei in dem Fall noch zu klären ist, worum es sich bei diesen „Hörnern“ handelt. Ob Schuppendornen, wie sie sich bspw. am Kopf der Wüsten-Hornviper finden?

14 mhꜣwꜣhꜣ: So nach Gardiners hieroglyphischer Transliteration. Auf dem aktuellen Berliner Foto ist nichts mehr zu erkennen. Bei dem Zeichen, das Gardiner als schlagenden Mann transliterierte, fragt man sich, ob es nicht eher der sitzende Mann mit Hand am Mund ist. J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 34 übersetzt mit: „ear-splitting (?) [cries (?)]“, wobei unsicher ist, ob er an ein oder an zwei ägyptische Wörter dachte. Das Possessivpronomen nꜣy=sn erfordert auf jeden Fall ein Substantiv, so dass das von Gardiner noch gesehene m nur dessen Anfang sein kann. In der anschließenden kleinen, auch von Gardiner nicht ergänzten Lücke kann dann nur der zweite Teil einer syllabischen Gruppe gestanden haben, vielleicht nur eine w-Schleife (s. die Optionen bei J.E. Hoch, Semitic Words in Egyptian Texts of the New Kingdom and Third Intermediate Period (Princeton, NJ 1994), 508)

15 Als der Schreiber am Ende der Vorderseite ankam, hat er das Ostrakon über die horizontale Achse gedreht und auf der anderen Seite weitergeschrieben; die Unterkante des Rectos entspricht demzufolge der Oberkante des Versos und der Versotext steht gegenüber dem Recto auf dem Kopf. Zunächst hat der Schreiber zwei Zeilen in kleiner Schrift und engem Zeilenabstand geschrieben; der Text dürfte eine Fortsetzung des Recto-Textes sein. Daher hat Möller einfach die Zeilenzählung der Vorderseite fortgesetzt und die beiden Zeilen mit „13“ und „14“ nummeriert. Gardiner hat in seiner Transliteration diesen beiden Zeilen keine Nummer gegeben. Mit der zweiten Zeile endet dieser Text oder zumindest dieser Textabschnitt, denn sie ist nicht vollgeschrieben. Hierauf folgen vier Zeilen in viel größerer Schrift mit großzügigem Zeilenabstand. Diese Änderung im Schriftbild, unterstützt von dem Umstand, dass die zweite Zeile des Verso-Textes zur Hälfte freiblieb, erweckt den Eindruck, dass ein neuer Text vorliegt. Möller und Gardiner zählen diese vier Zeilen tatsächlich auch neu durch als Zeile 1 bis 4.

16 J.F. Borghouts, Ancient Egyptian Magical Texts. Translated, Nisaba 9 (Leiden 1978), 34 und 104, Anm. 124 vermutet, dass die Nennung der Materia magica, über denen der Spruch rezitiert werden solle, ausgefallen ist. Ob vielleicht die Produktnamen (?) in der folgenden Zeile dazu gehören? Gardiner, DZA 50.204.570 vermutet in ihnen jedoch nur eine „Randnotiz“, und auch Borghouts stellt keinen syntaktischen Zusammenhang zwischen ihnen und der Rezitationsanweisung her.