Listenwissenschaft, Lexikographie, Philologie

Das Nachdenken und die Diskussion über Sprache begann vermutlich da, wo Sprache als Mittel der Verständigung zwischen Sprechern verschiedener Sprachen versagte und somit das erste Mal hinterfragbar wurde. Dieses erste Nachdenken wird für uns im Moment der Schrifterfindung greifbar, nämlich mit der Entscheidung, welches sprachliche Element graphisch umgesetzt werden muss: Komplexe Ideen und Konzepte, die im besten Falle unabhängig von Sprache funktionieren (Bilderschrift), Notation von Wörtern oder Silben einer konkreten Sprache (ägyptische Hieroglyphen und ihre kursiven Äquivalente Hieratisch und Demotisch), oder einzelne Laute (Alphabetschriften, inklusive dem Koptischen). Die beiden letztgenannten Typen von Schrift benötigen nur Zeichen für solche Laute und Lautkombinationen, die in der jeweiligen Sprache vorhanden sind und von ihren Sprechern als notierenswert erachtet wurden. Das erklärt die große Varianz unter den Alphabeten.

Die ersten Belege für ägyptische Schrift fallen in die Phase der Staatsentstehung und sind fast gleichzeitig mit den ersten Schriftzeugnissen aus Mesopotamien anzusetzen. Aus dem prädynastischen Herrschergrab U-j, Abydos, das um ca. 3350 v.Chr. datiert, stammt eine Reihe von Anhängetäfelchen mit eingeritzten Herkunftsangaben und Zahlen, bei denen sich zeigt, dass die Entwicklung der Hieroglyphenschrift bereits vorangeschritten war. Obwohl sie während der gesamten pharaonischem Zeit zur Niederschrift von abstrakter Sprache verwendet wurde, hat sie nie ganz ihren bildlichen Charakter verloren, was mehr Wort- und Schriftspiele erlaubte, als es mit abstrakteren Schriftsystemen möglich ist. Diese und andere Eigenschaften führten dazu, dass die Hieroglyphen bis ins 4. Jh. n.Chr., also über 3500 Jahre, im Gebrauch waren.

Genuin altägyptische Stellungnahmen über das Funktionieren der Hieroglyphenschrift sind sehr selten und erst spät überliefert: Der sogenannte Zeichenpapyrus aus Tanis (2. Jh. n.Chr.) ordnet die Hieroglyphen (in ihrer spätzeitlichen Form) nach semantischer Bedeutung: stehende Männer, sitzende Frauen, fallende Männer, Tiere, Körperteile, usw. Diese Liste ist tabellarisch aufgebaut, jede Zeile beginnt mit dem entsprechenden Zeichen, gefolgt von seiner hieratischen Entsprechung und einer kurzen Erklärung.

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Abb. 1: Sogenannter Zeichenpapyrus Tanis

Eine andere Art der Strukturierung findet sich im demotischen Papyrus Sakkara 1 27: Dieser ist nach phonetischen Kriterien sortiert, nicht nach graphischen. Er enthält eine Liste mit Vogelnamen, die offenbar nach dem Prinzip der Akrophonie geordnet sind, verbunden mit einem kurzen Satz als Merkhilfe, wie bsw.: pꜣ hb ḥr hbyn „Der Ibis sitzt auf Ebenholz“ (Z. 2), šmi̯ n=f bnw r Bbl „Der Benu-Vogel ging nach Babylon“ (Z. 10). Vergleichbare Listen mit Vogelnamen als phonetische Sortierhilfe sind die Papyri Carlsberg 7 und Oxyrhynchus B.3 6/2. Solche Texte dürften sich dem Schulunterricht zuordnen lassen, und sie erlauben uns die Rekonstruktion einer Alphabetsequenz, die sich bis mindestens ins 15. Jh. v.Chr. zurückverfolgen lässt. Obwohl die Alten Ägypter demzufolge ihre Wörter auch in Einzellaute zerlegen und diese nach bestimmten Kriterien sortieren konnten, fühlten sie nie die Notwendigkeit, ihre Schrift auf diese Einzellaute zu reduzieren und ein Alphabet zu erfinden. Erst in der griechisch-römischen Zeit experimentierten sie mit alphabetischen Schriften und übernahmen das griechische Alphabet, das sie mit Sonderzeichen für solche Laute erweiterten, die es im Griechischen nicht gab. Auf diese Weise entstand das koptische Alphabet.

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Tab. 1: Rekonstruktion der ägyptischen „Alphabet“-Reihenfolge

Neben den Alphabetlisten sind aus dem Schul- bzw. Unterrichtskontext noch eine Reihe von Übungen zur Grammatik überliefert. Zeugnisse aus dem Neuen Reich oder früher sind selten; weitaus mehr Übungen sind uns aus dem demotischen Schulunterricht (Spätzeit bis griechisch-römische Zeit) überliefert. Papyrus Wien 6464, eine Schulübung für Personalpronomina, zeigt, dass alle möglichen grammatischen Konstruktionen und Formen geübt wurden. Aus der früheren, ramessidischen Zeit stammt die Holztafel Berlin 8934, die einen kurzen Ausschnitt aus der „Lehre des Ani“ in mittel- und neuägyptischer Sprache enthält und wohl Schülern zum Erlernen der älteren Sprachstufe dienen sollte.

Während die linguistischen Ansätze der Alten Ägypter demzufolge erst aus späteren Zeitstufen bekannt sind, datieren Hinweise auf lexikographisches Interesse schon in das Mittlere Reich, mit ersten Ansätzen vom Ende des Alten Reiches. Aus dem späten Mittleren Reich stammt das sogenannte „Ramesseumsonomastikon“, so benannt nach der Edition dieses Texttyps durch Gardiner im Jahr 1947. Ihre Bezeichnung rührt daher, dass sie hauptsächlich substantivische Benennungen (engl.: „onomastics“) auflisten. Ihr Hauptzweck war nicht lexikographisches Interesse, sondern das Bestreben, die Welt als göttliche Schöpfung möglichst genau zu erfassen (vgl. die Einleitung des „Onomastikons des Amenemope“). Das erklärt ihren Fokus auf den Aufbau der Welt, geographische Begriffe, Ämter, Berufe und Personengruppen, Tiere, Pflanzen und Erzeugnisse der Landwirtschaft. Allerdings listet das Onomastikon des Amenemope, obwohl vollständig überliefert, nur 610 Begriffe auf, was für ein Inventar der göttlichen Schöpfung überraschend wenig ist – viele Bereiche von Natur (z.B. Tiere) und Kultur (z.B. Handelsprodukte) kommen darin nicht vor.

Geordnet ist das Onomastikon des Amenemope nach semantischen Kriterien, aber es ist unklar, ob diese auf zeitgenössischen ontologischen Modellen beruhen oder auf einer spontanen Entscheidung des Verfassers. Sie sind zumindest nicht kanonisch, denn das ältere Ramesseumsonomastikon sortiert die Begriffe anders. Ein weiterer Unterschied zwischen diesen beiden Onomastika ist, dass der Ramesseumstext tabellarisch aufgebaut ist, wohingegen das Onomastikon des Amenemope als fortlaufender Text geschrieben wurde.

Aus Mesopotamien sind derartige Inventare in viel größerer Zahl bekannt; der deutsche Altorientalist W. von Soden prägte dafür den Begriff der „Listenwissenschaft“.

Begriffslisten, die an die reinen Onomastika erinnern, sind im ramessidenzeitlichen Ägypten ferner in die sogenannten „Miscellanies“ integriert, bei denen es sich um Sammlungen von Modellbriefen mit religiösen (z.B. Königshymnen), didaktischen (z.B. Vorwürfe an den faulen Schüler) und administrativen Inhalten (z.B. Scheunenprodukte oder nubische Tribute) handelt. Der Hauptzweck dieser Miscellanies ist noch umstritten, aber es ist anzunehmen, dass sie u.a. auch zur Ausbildung dienten, um zukünftige Beamte mit für sie relevanten Fachbegriffen vertraut zu machen. Nach J.F. Quack könnte die Einbettung solcher Listen in Modellbriefe dazu gedient haben, sie „weniger langweilig“ zu gestalten.

Dass solche Begriffslisten wohl tatsächlich in der Schreiberausbildung verwendet wurden, lässt sich auch indirekt aufzeigen: Sowohl der „Beredte Bauer“ als auch „Die Reise des Wenamun“, zwei literarische Texte, enthalten lange Produktlisten, die offenbar mit Leichtigkeit von ihren jeweiligen Schreibern abgespult worden waren. Vor diesem Hintergrund ist es wohl auch kein Zufall, dass eine Kopie des ersteren Textes zusammen mit dem Ramesseumsonomastikon (und anderen, bspw. magischen und medizinischen, Texten) gefunden wurde und der letztere zusammen mit der vollständigsten Kopie des Onomastikons des Amenemope.

 

Onomastika späterer Epochen enthalten auch andere Wortarten als nur Substantive. Eine Schreibtafel aus der Schøyen Collection enthält beispielsweise Verben der Bewegung. Außerdem mussten diese späteren Onomastika mit der Herausforderung kämpfen, wie mit alten, außer Gebrauch gekommenen Begriffen umzugehen ist. Das „Tebtynis-Onomastikon“ bietet daher supralineare Übersetzungen in jüngere Begriffe und gelegentliche Lesehilfen. Dadurch bietet es nicht nur Einblicke in das ägyptische Weltbild, sondern ebenso Einblicke in die Veränderung der ägyptischen Sprache und wie die Ägypter damit umgingen. Schließlich gibt dieser Text, wie auch andere Onomastika dieser Zeit, Zusatzinformationen zu den aufgezählten Begriffen und steht damit an der Grenze zu Priesterhandbüchern und normativen Texten